Ein Hauch von Kirschblüten
verstand. Wie könnte er, wo ich mich selbst nicht
verstehe? Florian habe ich immer vertraut, und er war es nicht wert. Tom, mein
Tom, ist für mich das Wichtigste auf der Welt. Warum kann ich nicht glauben,
dass es ihm genauso geht, wo er es mir schon so oft bewiesen hat?
Ein Klingeln an der Haustür riss
Jan aus den diffusen Gedanken und ließ ihn zusammenfahren. Steffen machte sich
auf den Weg zur Tür, während Jan hastig nach der Jacke griff. Er hatte keine
Lust, einem von Steffens anderen Freunden über den Weg zu laufen. Er kannte
sie, war mit ihnen aufgewachsen, hatte sie selbst Freunde genannt. Das war
einmal.
Jan lief ein kalter Schauer über
den Rücken, als er die ihm vertraute Stimme hörte.
„Ist er da?“
Steffen schien nicht zu
antworten, zumindest hörte Jan keinen Kommentar seinerseits. Wenige Sekunden
später stand er im Zimmer, die Hände in den Taschen, die Schultern hochgezogen.
Sein Blick war traurig, so wie Jan es befürchtet hatte.
„Tom ... ich ...“
„Kommt mal mit, Jungs. Ich muss
euch was zeigen“, sagte Steffen und fuhr in sein Fotoatelier.
Unschlüssig folgten sie ihm,
darauf bedacht, Abstand zwischen sich zu halten. Es tat Jan in der Seele weh.
Am liebsten hätte er sich Tom an den Hals geworfen, ihn angefleht, ihm zu
verzeihen. Er wollte ihn spüren, dessen Wärme um sich haben, dessen Duft
inhalieren. Stattdessen standen sie hinter Steffen, einer links von ihm, der
andere rechts. Steffen öffnete einen Ordner auf seinem Computer.
„Das sind die Bilder von gestern.
Seht sie euch in aller Ruhe an, und dann überlegt, ob ihr das, was ihr habt,
wirklich so leichtfertig aufs Spiel setzen wollt.“ Steffen rollte zurück. Jan
wich zur Seite und sah unsicher zu, wie sein Freund das Zimmer verließ und die
Tür hinter sich schloss.
Jetzt war er mit Tom allein. Es
gab kein Entkommen mehr. Jans Herz raste so schnell, dass er durch den Mund
atmen musste, um genug Sauerstoff in die Lungen zu bekommen.
Tom beugte sich über den
Schreibtisch und klickte die Fotos durch. Ja, Steffen war ein begnadeter
Fotograf, doch Jan wusste nicht, wie ihn das momentan weiterbringen sollte.
Im nächsten Augenblick hielt er
die Luft an und sein Herz setzte ein paar Schläge aus. Toms Hand, die über dem
Cursor schwebte, zitterte leicht.
Beide hatten sie nicht bemerkt,
dass Steffen nicht bloß die Landschaft fotografiert hatte. Auf dem Bild waren
sie zu sehen, innig umschlungen, inmitten der Schneelandschaft. Ihre Blicke
gingen so tief, waren so voller Zärtlichkeit, dass Jan automatisch Tränen in die
Augen schossen. Er hatte keine Ahnung gehabt, wie sie sich ansahen, wenn sie
zusammen waren. Jetzt verstand er, dass Tom nicht das Risiko eingehen konnte,
in der Öffentlichkeit mit ihm gesehen zu werden. Jeder würde wissen, was sie
füreinander empfanden – grenzenlose Liebe.
„Es tut mir so unendlich leid“,
flüsterte er.
Im nächsten Augenblick lag er in
Toms Armen. Ihm entwich ein Schluchzen. Sie hielten einander so fest, dass es
wehtat. Egal! Tom zu spüren war das Einzige, was zählte.
„Mir tut es auch leid.“
„Was?“
„Dass ich dir das Gefühl gegeben
habe, du wärst mir nicht wichtig. Ich weiß, du hörst es nicht oft von mir, aber
ich liebe dich, mehr als ich es sagen könnte. Ich werde alles tun, um dir die
Zweifel zu nehmen.“
„Ich habe so wahnsinnige Angst,
dich wieder zu verlieren.“
„Ich weiß. Ich habe dieselbe
Angst.“
Jan krallte noch immer die Hände
in Toms Jacke. Er wollte ihn nie wieder loslassen. Und genau da lag das
Problem. Er durfte Tom nicht zwingen, sich zu ändern. Warum auch? Er hatte sich
genau in diesen Mann verliebt.
Hatte er das? Oder hatte er sich
vielmehr in das Bild verliebt, was er nach ihrer Nacht in Tokio von Tom
erschaffen und in den Monaten danach zu einer Traumvorstellung von Mann
ausgebaut hatte?
Jan sah auf, sah in Toms Augen,
die so wundervoll blau waren und sich, während sie sich anlächelten, dunkler
färbten. Nein, er liebte nicht die Fantasie in seinem Kopf. Er liebte ihn,
dessen starke Arme, die ihn jetzt hielten, dessen geschwungene Lippen, die so
sanfte Worte flüstern konnten, die Stimme, die mit jedem Vibrieren säuselte:
Ich liebe dich. Toms Stärke, die er durchaus aus der Arroganz zog, die ihm zu
eigen war, seinen wachen Geist, das Talent, Menschen zu führen. Und diesen
Duft, diesen unvergleichlichen Geruch. Ich liebe alles an dir, Tom Richter.
„Lass uns heimfahren.“
War da ein Schatten in Toms
Gesicht?
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