Ein Hauch von Schnee und Asche
sagte Marsali. Sie hatte die Augen geschlossen und wiegte sich sanft vor und zurück, Henri-Christian fest an sich gedrückt. »Wenn er das nicht getan hätte…« Ihr schlanker Hals bewegte sich, als sie schluckte.
»Papa, Papa, los !« Jem, der die Unterhaltung der Erwachsenen nicht verstand, zupfte ungeduldig an Rogers Ärmel.
Roger hatte Marsali beobachtet, sein hageres Gesicht voll Sorge. Bei dieser Ermahnung kniff er die Augen zu, blickte zu seinem durch und durch normalen Sohn hinunter und räusperte sich.
»Aye«, sagte er und nahm sich Germains Auto. »Also gut. Hier ist der Start…«
Brianna legte Marsali eine Hand auf den Arm. Er war dünn, aber kräftig bemuskelt, die helle Haut von der Sonne vergoldet und mit winzigen Sommersprossen übersät.
»Sie werden schon noch damit aufhören«, flüsterte sie. »Sie werden es einsehen…«
»Aye, vielleicht.« Marsali umfasste Henri-Christians kleinen runden Hintern und drückte ihn fester an sich. Ihre Augen waren geschlossen. »Vielleicht auch nicht. Aber wenn Germain bei Fergus ist, passt er vielleicht besser auf, mit wem er sich anlegt. Es wäre mir lieber, wenn er nicht umgebracht würde, aye?«
Sie beugte den Kopf über das Baby, konzentrierte sich ganz aufs Stillen und schien nichts mehr sagen zu wollen. Brianna tätschelte ihr etwas verlegen den Arm, dann nahm sie den Platz am Spinnrad ein.
Natürlich hatte sie das Gerede gehört. Zumindest teilweise. Vor allem unmittelbar
nach Henri-Christians Geburt, die Fraser’s Ridge wie ein Erdbeben erschüttert hatte. Abgesehen von ein paar offenen Mitleidsbekundungen war viel getuschelt worden; über die jüngsten Ereignisse und den bösen Einfluss, der dazu geführt haben mochte – vom Überfall auf Marsali und dem Brand der Mälzerei bis hin zur Entführung ihrer Mutter, dem Gemetzel im Wald und der Geburt eines Zwergs. Ein Mädchen hatte in ihrer Hörweite unüberlegt etwas von »… Hexerei, was sonst?« gemurmelt – doch Brianna hatte sich vor dem Mädchen aufgebaut und es wortlos angefunkelt, worauf es erbleicht war und sich mit seinen Freundinnen verdrückt hatte. Allerdings hatte das Mädchen noch einmal trotzig zurückgesehen, bevor es sich abwandte und die drei kichernd verschwanden.
Doch ihr oder ihrer Mutter gegenüber hatte es niemand je an Respekt mangeln lassen. Es war klar, dass eine ganze Reihe der Pächter große Angst vor Claire hatte – doch sie hatten noch mehr Angst vor ihrem Vater. Die Zeit und die Macht der Gewohnheit schienen ihr Werk verrichtet zu haben – bis Henri-Christian geboren wurde.
Am Spinnrad zu arbeiten, beruhigte ihre Nerven; das Surren des Spinnrads mischte sich unter die Regengeräusche und das Plappern der Kinder.
Immerhin war Fergus zurückgekommen. Als Henri-Christian geboren wurde, war er aus dem Haus gestürmt und hatte sich tagelang nicht sehen lassen. Arme Marsali , dachte sie und sandte im Geiste einen finsteren Blick in Fergus’ Richtung. Sie allein mit dem Schock fertig werden zu lassen. Und alle waren schockiert gewesen, sie selbst nicht ausgeschlossen. Vielleicht konnte sie Fergus doch keine Vorwürfe machen.
Sie schluckte, und wie immer, wenn sie in Henri-Christians Nähe war, malte sie sich aus, wie es wohl wäre, ein Kind mit einer schlimmen Missbildung zu bekommen. Dann und wann sah sie sie – Kinder mit Hasenscharten, mit den entstellten Gesichtszügen, die ihre Mutter angeborener Syphilis zuschrieb, geistig Behinderte – und jedes Mal bekreuzigte sie sich und dankte Gott, dass Jemmy normal war.
Aber das waren Germain und seine Schwestern auch. So etwas konnte einen jederzeit aus dem Nichts treffen. Sie blickte unwillkürlich zu dem Regal hinüber, auf dem sie ihre persönlichen Gegenstände aufbewahrte, darunter auch das dunkelbraune Glas mit den Dauco samen. Seit Henri-Christians Geburt nahm sie sie wieder, obwohl sie es Roger gegenüber nicht erwähnt hatte. Sie fragte sich, ob er es wusste; gesagt hatte er nichts.
Marsali sang leise vor sich hin. Machte Marsali Fergus Vorwürfe?, fragte sie sich. Oder er ihr? Sie hatte schon seit einiger Zeit kein Wort mehr mit Fergus gewechselt. Marsali schien ihn jedenfalls nicht kritisieren zu wollen – und sie hatte gesagt, sie sähe nicht gern, dass er umgebracht würde. Brianna lächelte bei dieser Erinnerung. Und doch strahlte sie unleugbar Entfremdung aus, wenn sie ihn erwähnte.
Der Faden verdickte sich plötzlich, und sie trat schneller, um den Fehler
auszugleichen, doch er verfing sich
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