Ein Hauch von Schnee und Asche
um ihn anzusehen. Rodney, der noch nicht richtig schlief, öffnete seine runden, dunklen Äuglein und betrachtete sie mit ruhiger, verschlafener Neugier.
»Das ist mein kleiner Junge. Rodney Joseph heißt er – nach meinem Pa,
aye?« Lizzie hievte ihn aus seinem Körbchen, die runden Knie bis zum Kinn hochgezogen, und legte ihn Monika sanft in die Arme.
Sie gurrte ihn strahlend auf Deutsch an.
»Omalust«, murmelte Brianna mir aus dem Mundwinkel heraus zu, und ich spürte, wie unter meinem Korsett Gelächter aufstieg. Ich hatte das letzte Mal vor Malvas Tod gelacht und empfand es als Balsam für meine Seele.
Lizzie erklärte Monika mit ernster Stimme die Entfremdung, die aus ihrer unorthodoxen Ehe resultierte, und Monika nickte, schnalzte verständnisvoll mit der Zunge – worauf ich mich fragte, wie viel sie eigentlich verstand – und redete gleichzeitig in der Babysprache auf Rodney ein.
»Nicht sehr wahrscheinlich, dass Mr. Wemyss weiter auf Abstand bleibt«, sagte ich meinerseits aus dem Mundwinkel heraus. »Seine neue Frau von seinem Enkelsohn fern halten? Ha!«
»Ja, was macht schon die Kleinigkeit mit dem doppelten Schwiegersohn?«, pflichtete mir Brianna bei.
Amy betrachtete die zärtliche Szene mit leiser Sehnsucht. Sie streckte den Arm aus und legte ihn Aidan um die schmächtigen Schultern.
»Nun, man sagt doch, je mehr, desto besser«, sagte sie.
86
Prioritäten
Drei Hemden, eine zusätzliche, ordentliche Hose, zwei Paar Strümpfe, eins aus Baumwolle, eins aus Seide – halt, wo waren die Seidenstrümpfe?
Brianna trat zur Tür und rief nach ihrem Mann, der mit Jemmys und Aidans Hilfe fleißig tönerne Rohrsegmente in den Graben legte, den er geschaufelt hatte.
»Roger! Was hast du mit deinen Seidenstrümpfen gemacht?«
Er hielt stirnrunzelnd inne und rieb sich den Kopf. Dann reichte er Aidan den Spaten, sprang über den offenen Graben und kam zum Haus.
»Ich habe sie doch letzten Sonntag zur Predigt getragen, nicht wahr?«, fragte er, als er bei ihr ankam. »Was habe ich... oh.«
»Oh?«, sagte sie argwöhnisch, als sie sah, wie sich seine fragende in eine schuldige Miene verwandelte. »Was heißt hier ›oh‹?«
»Ähh... tja, du warst ja mit Jem und seinen Bauchschmerzen zu Hause geblieben« – eine Erkrankung, die ihr taktisch sehr gelegen kam, da sie sie davor bewahrte, zwei Stunden lang inmitten einer Menge zu sitzen, die sie tuschelnd anstarrte -, »und als mich Jocky Abernathy gefragt hat, ob ich mit ihm angeln gehe...«
»Roger MacKenzie«, sagte sie und fixierte ihn mit einem vernichtenden Blick, »wenn du deine guten Seidenstrümpfe in einen Korb voller stinkender Fische gelegt und sie da vergessen hast -«
»Ich gehe eben nach oben und leihe mir ein Paar von deinem Pa, ja?«, sagte er hastig. »Meine tauchen sicher irgendwo wieder auf.«
»Dein Kopf auch«, sagte sie. »Wahrscheinlich unter einem Stein.«
Das brachte ihn zum Lachen, was nicht ihre Absicht gewesen war, aber ihre Wut linderte.
»Es tut mir Leid«, sagte er und beugte sich vor, um sie auf die Stirn zu küssen. »Das war sicher eine Freud’sche Fehlleistung.«
»Oh? Und was hat es zu bedeuten, wenn man seine Strümpfe um einen toten Fisch gewickelt vergisst?«, wollte sie wissen.
»Ein schlechtes Gewissen und geteilte Loyalitäten, vermute ich«, sagte er immer noch scherzhaft, aber nicht mehr so sehr. »Brianna – ich habe nachgedacht. Ich glaube, ich sollte wirklich nicht gehen. Ich brauche doch nicht-«
»O doch«, sagte sie so entschlossen wie möglich. »Pa sagt es, Mama sagt es, und ich sage es auch .«
»Oh. Na dann.« Er lächelte, doch sie konnte die Beklommenheit unter seinem Humor sehen – umso mehr, als sie sie ebenfalls empfand. Der Mord an Malva Christie hatte Fraser’s Ridge in Aufruhr versetzt – Alarmiertheit, Hysterie, Argwohn und Finger, die in alle Richtungen zeigten. Mehrere junge Männer – darunter Bobby Higgins – waren einfach aus der Siedlung verschwunden, ob aus Schuldgefühl oder einfach nur aus Selbstschutz.
Es hatte Anschuldigungen in Hülle und Fülle gegeben; selbst Brianna war zum Gegenstand von Klatsch und Tratsch geworden, weil einige ihrer unbedachten Bemerkungen über Malva Christie die Runde gemacht hatten. Doch der Großteil des Argwohns richtete sich unverblümt gegen ihre Eltern.
Diese gaben sich beide alle Mühe, ihrem Alltag nachzugehen und das Geschwätz und die viel sagenden Blicke schlicht zu ignorieren – doch es fiel ihnen zunehmend schwerer,
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