Ein Hauch von Schnee und Asche
werden?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Ian, der jetzt zum ersten Mal unsicher klang. »Würdest du sagen, dass die Flut steigt, Onkel Jamie? Oder dass es Ebbe ist?«
Jamie blickte auf das Wasser hinab, das sich unter dem Bootshaus kräuselte, als könnte es ihm einen Hinweis geben.
»Woher soll ich das wissen, zum Kuckuck? Und was würde es ändern?« Er rieb sich fest über das Gesicht und versuchte zu überlegen. Sie hatten ihm natürlich den Dolch abgenommen. Er trug ein Sgian Dhu im Strumpf, bezweifelte aber irgendwie, dass dessen Sieben-Zentimeter-Klinge in der gegenwärtigen Lage besonders nützlich sein würde.
»Was hast du für Waffen, Ian? Du hast nicht zufällig deinen Bogen dabei?«
Ian schüttelte bedauernd den Kopf. Er war zu Jamie an die Tür des Bootshauses getreten, und der Mond zeigte den Hunger in seinem Gesicht, als er das Schiff betrachtete.
»Ich habe zwei ordentliche Messer, einen Dolch und eine Pistole. Dann ist da noch mein Gewehr, aber das habe ich bei meinem Pferd gelassen.« Er wies mit einem Ruck seines Kopfes auf den Wald, der sich in einiger Entfernung als dunkle Linie abzeichnete. »Soll ich es holen? Es könnte sein, dass sie mich sehen.«
Jamie überlegte angestrengt und pochte mit den Fingern gegen den Türrahmen, bis ihn der Schmerz in seinem gebrochenen Finger zum Aufhören zwang. Der Drang, auf Bonnet zu warten und ihn zu überwältigen, war geradezu körperlich; er verstand Ians Hunger und teilte ihn. Doch sein Verstand war damit beschäftigt, die Chancen abzuwägen, und bestand darauf, ihn damit zu konfrontieren, selbst wenn das rachsüchtige Tier in ihm nicht viel davon wissen wollte.
Es war noch nichts von irgendeinem Boot zu sehen, das von dem Schiff herüberkam. Immer vorausgesetzt, dass das Schiff dort draußen tatsächlich Bonnets Schiff war – und das wussten sie ja gar nicht mit Sicherheit -, konnte es noch Stunden dauern, bevor jemand kam, um ihn wegzuschleppen. Und wenn das geschah, wie wahrscheinlich war es, dass Bonnet selbst dabei war? Er war der Schiffskapitän; würde er einen solchen Botengang selbst unternehmen oder seine Untergebenen schicken?
Wenn er ein Gewehr hatte und Bonnet in dem Boot war , hätte Jamie jede Summe gewettet, dass er den Mann aus dem Hinterhalt treffen konnte. Wenn er in dem Boot war. Wenn er in der Dunkelheit zu erkennen war. Und er konnte ihn zwar treffen, doch es war ja möglich, dass der Schuss nicht tödlich war.
Doch wenn Bonnet nicht in dem Boot war, dann würden sie warten müssen, bis das Boot dicht genug herankam, an Bord springen und die Insassen überwältigen – wie viele würden es sein? Zwei, drei, vier? Sie mussten alle getötet oder bewegungsunfähig gemacht werden, und dann mussten sie das verdammte Boot wieder zum Schiff rudern – wo mit Sicherheit jedermann an Bord das Handgemenge am Ufer bemerkt hatte und entweder darauf vorbereitet war, das Boot mit einer Kanonenkugel zu versenken, oder darauf wartete, dass sie beidrehten, um sie dann wie lebende Zielscheiben abzuknallen.
Und falls es ihnen doch irgendwie gelang, unbemerkt an Bord zu kommen – galt es, das gottverdammte Schiff nach Bonnet zu durchsuchen, ihn dingfest zu machen und umzubringen, ohne die Aufmerksamkeit der Mannschaft zu erregen -
Diese umfangreiche Analyse zuckte ihm in dem Zeitraum durch den Kopf, den er zum Ein- und Ausatmen brauchte, und genauso schnell verwarf er sie. Wenn sie in Gefangenschaft gerieten oder umgebracht wurden, würde Claire allein und hilflos sein. Das konnte er nicht riskieren. Dennoch, so tröstete er sich, Forbes konnte er finden – und das würde er auch, wenn die Zeit gekommen war.
»Aye, nun denn«, sagte er und wandte sich seufzend ab. »Hast du nur das eine Pferd, Ian?«
»Aye«, sagte Ian mit einem ähnlichen Seufzer. »Aber ich weiß, wo wir noch eins stehlen können.«
92
Amanuensis
Zwei Tage verstrichen. Heiße, feuchte Tage in der schwülen Dunkelheit, und ich konnte spüren, wie diverse Sorten von Schimmel, Pilz und Fäulnis versuchten, sich in meinen Körperhöhlen festzusetzen – ganz zu schweigen von den alles fressenden, allgegenwärtigen Kakerlaken, die fest entschlossen zu sein schienen, an meinen Augenbrauen zu knabbern, sobald das Licht gelöscht wurde. Das Leder meiner Schuhe war klamm und schlaff, das Haar hing mir in schmutzigen Strähnen am Kopf, und ich ging – genau wie Sadie Ferguson – dazu über, den Großteil meiner Zeit im Hemd zu verbringen.
Als Mrs. Tolliver kam und uns
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