Ein Hauch von Seide - Roman
wochenlang in aller Munde gewesen; die Klatschspalten hatten Fotos von Emerald gebracht, Artikel voller verschleierter Anspielungen auf ihren derzeitigen Zustand und reichlich unverdientem Lob für Emeralds Tapferkeit, weil sie der Kirche von England standhaft die Treue hielt.
Die ganze Angelegenheit war in Ellas Augen schockierend und schimpflich, doch irgendwie auch ganz typisch für Emerald, die immer schon gern im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden hatte und die mit Sachen durchkam, die man niemand anderem zugestehen würde.
Sie richtete den Blick auf ihren Schreibtisch. Sie war mitten bei der Arbeit an einem Artikel gewesen, als man nach ihr geschickt hatte. Als sie nach ihren Notizen griff, hoben sich die zarten Knochen ihres schmalen Handgelenks deutlich unter der Haut ab. Sie arbeitete im Augenblick so hart, dass sie wohl kaum die Zeit gefunden hätte, zu Mittag zu essen, selbst wenn sie gewollt hätte.
Ihre Familie dachte, die viele Arbeit hätte ihre schulmädchenhafte Pummeligkeit verschwinden lassen, um die Eleganz ihres Knochenbaus zum Vorschein zu bringen, doch Ella wusste es natürlich besser. Oliver Charters hatte sie schockiert und ihr, ja, auch Angst eingejagt mit dem, was er über die Diätpillen und ihre Gefahren gesagt hatte, doch Ella hatte sich schließlich davon überzeugt, dass er die Gefahren übertrieben hatte. Abgesehen davon nahm sie jetzt immer nur eine Pille am Tag – außer wenn sie so müde war und einen Energieschub brauchte, dass sie wirklich das Gefühl hatte, sie bräuchte eine zweite. Erstaunlich, wie gut sie funktionierten – und obendrein noch ihren Appetit zügelten. Ella wollte nie mehr ohne sie sein – niemals.
Das Gesicht, das sie jetzt morgens aus dem Badezimmer anblickte, hatte Wangenknochen und eine neue, ovale Form, die ihre Augen größer erscheinen ließ und ihre Lippen voller. Doch sie wollte nicht länger über diese Veränderungen nachdenken, sie hatte viel zu viel zu tun, was weitaus interessanter war. Außerdem war es ihr darum beim Abnehmen nicht gegangen. Es war ihr darum gegangen, sich zu beweisen, dass sie es konnte. Irgendwo in ihrem Innern wies eine leise Stimme sie darauf hin, dass sie jetzt, da sie ihr Ziel erreicht hatte, doch aufhören könnte, doch Ella hörte einfach nicht darauf. Sie hatte Angst, wenn sie ihre kostbaren Pillen nicht mehr nahm, würde sie wieder dick werden, und das hieße, dass sie versagt hatte. Ihr Ziel zu verwirklichen hatte sie so glücklich gemacht, so froh über sich selbst. Sie war selbstbewusst und hatte Kontrolle über ihr Leben.
Mit dem neu gewonnenen Selbstvertrauen hatte sie angefangen, in der Abendschule das Handwerk des Journalismus zu erlernen. Dort mischte sie sich unter Studierende, die sich wie sie leidenschaftlich für die wirklich wichtigen Dinge im Leben interessierten, wie Armut, Krieg, Ungerechtigkeit und Bigotterie.
Ella wusste, dass Vogue ihr nicht die Möglichkeit bot, über diese Themen zu schreiben – New York vielleicht schon. Amerika war doch sicherlich viel offener gegenüber modernen Gedanken und würde Menschen wie ihr eine Stimme geben. Es konnte der Beginn von etwas sehr Aufregendem sein.
31
Es war Heiligabend, sechs Uhr, und Rose hatte den ganzen Tag bei den Russells gearbeitet, wo sie geholfen hatte, die neuen Vorhänge aufzuhängen und richtig zu drapieren. Als sie jetzt den Laden betrat, war sie völlig erschöpft. Ella und Janey waren inzwischen sicher in Denham angekommen. Ihr Vater hatte sie am Bahnhof abgeholt und nach Hause gefahren, wo Tante Amber im Wohnzimmer ein großes Kaminfeuer brennen hatte und wo sich um den Baum in der Halle, den die Zwillinge gerade noch fertig schmückten, die Geschenke stapelten. Das Haus würde nach Glühwein, Mince-Pies und dem Holzrauch aus dem Kamin duften, doch es war der Gedanke an Ambers warme Umarmung zur Begrüßung, bei dem Rose sich räuspern musste, und ihre Augen brannten. So war es nicht mehr, erinnerte sie sich grimmig. So war es nie gewesen, im Grunde nicht, und es war an der Zeit, dass sie aufhörte, so … so sentimental zu sein, und sich der Wahrheit stellte.
Sie griff nach ihrem Mantel. Alle anderen waren schon nach Hause gegangen, und sie war nur noch hier, weil die Sekretärin ihr, als sie mit dem Mantel in der Hand vorbeigehuscht war, zugerufen hatte, Ivor Hammond wolle sie noch sehen, bevor sie ging.
Er kam mit gerunzelter Stirn aus seinem Büro.
»Ich hatte gerade die Russells am Telefon«, erklärte er barsch.
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