Ein Hauch von Seide - Roman
sie noch jünger gewesen war, dann wäre jetzt alles gut, und sie könnte mit Brad ins Bett gehen. Sie hatte sich vom ersten Augenblick an, da sie einander vorgestellt worden waren, zu ihm hingezogen gefühlt. Er sah gut aus, war gefällig, intelligent, reich und geschieden und besaß Sinn für Humor, und er war ein renommierter Enthüllungsjournalist, der sich jetzt als Romanautor versuchte – war es ein Wunder, dass sie sich in ihn verliebt hatte? Er bestätigte alles, was sie heimlich immer gedacht hatte, nämlich dass die Männer, mit denen sie in London zu tun gehabt hatte, seicht und langweilig gewesen waren. Keiner hatte ihr je ein Gefühl gegeben wie Brad. Wenn sie an so etwas glauben würde, dann würde sie jetzt denken, sie hätte insgeheim darauf gewartet, dass er in ihr Leben trat.
Erst hatte sie ungläubig und dann aufgeregt reagiert, als er angefangen hatte, diskret um sie zu werben. Doch bald war ihr bewusst geworden, wie diffizil ihre Situation war. Brad war ein liberaler Denker, ein Mann mit gewissen unbeirrbaren Ansichten, und dazu gehörte das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau. Er hatte einige profilierte und gefeierte Artikel darüber geschrieben, in denen er Frauen, die sich weigerten, sich der sexuellen Revolution anzuschließen, und sich an die alten Werte klammerten, um ihre Jungfräulichkeit gegen einen Ehering einzutauschen, öffentlich angeprangert hatte. Verräterinnen an ihrem eigenen Geschlecht hatte er sie genannt, nichtswürdig und perfide in den Augen eines wahren befreiten Mannes.
Und Ella war noch Jungfrau. Nicht, weil sie je die Absicht gehabt hatte, mit ihrer Jungfräulichkeit einen Mann in die Ehe zu ködern – weit gefehlt. Sie hatte nie heiraten wollen. Und sie war noch Jungfrau, weil sie viel zu viel Angst davor hatte, Kinder zu kriegen und dann genauso verrückt zu werden wie ihre Mutter.
Doch jetzt hatte ihr New Yorker Gynäkologe ihr die Pille verschrieben, weil sie Probleme mit ihrer Periode hatte, und das hieß, dass sie eine ungewollte Schwangerschaft nicht mehr fürchten musste.
Sie könnte Brad natürlich erklären, warum sie noch Jungfrau war, doch als ältestes Kind war sie getrieben von dem Bedürfnis, sich in allem, was sie tat, hervorzutun, und der Angst vor Demütigung, wenn sie sich in irgendeiner Hinsicht als nicht perfekt erwies. Brad war ein weltgewandter New Yorker Mitte dreißig, der, davon war sie überzeugt, ein phantastischer Liebhaber war und von einer Frau, mit der er ins Bett ging, gewiss erwartete, dass sie genauso erfahren war wie er.
Wie konnte sie sich ihm als linkische, völlig unerfahrene Jungfrau präsentieren? Ausgeschlossen! Schließlich war ihr sorgfältig kultiviertes Image das einer modernen, weltgewandten Journalistin.
Jetzt war es zu spät, den Gelegenheiten, sexuelle Erfahrungen zu sammeln, hinterherzutrauern, etwa den endlosen Partys, zu denen Janey sie und Rose in London mitgeschleppt hatte. Sie fand die Vorstellung unerträglich, mit Brad im Bett zu sein und dann zu sehen, wie sich seine Miene von Verlangen zu kalter Verachtung wandelte oder, noch schlimmer, Belustigung, wenn er die Wahrheit erfuhr. Sie hatte die Szene unzählige Male im Geiste durchgespielt. Die Demütigung würde sie umbringen. Sie wollte Brad auf Augenhöhe begegnen, ihn entzücken und überraschen, er sollte völlig hin und weg sein, welche Macht sie besaß, ihn weit über die Grenzen aller Selbstkontrolle hinaus zu erregen. Sie wollte ihn unbedingt erfreuen und beeindrucken, wollte besser sein als alle anderen, wollte die Beste sein. Wollte ihn sagen hören, dass keine andere Frau mit ihr mithalten konnte. Das wollte sie. Nichts Geringeres. Und da sie das nicht haben konnte, musste sie ihn sich eben aus dem Kopf schlagen. Hätte sie einen Zauberstab schwenken und sich in die Frau verwandeln können, die sie sein wollte, hätte sie es getan. Doch Ella wusste von Kindheitstagen an, dass es so etwas wie Zauberei nicht gab. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich beim Zubettgehen eine ganze Zeit lang gewünscht, während der Nacht möge alles Beängstigende, was sie über ihre Mutter wusste, fortgezaubert werden, und wenn sie am Morgen aufwachte, wäre ihre Mutter Lydia wieder da, und sie wäre normal und nicht verrückt. Doch das war nie geschehen. Es gab keine Zauberei.
Brad würde es bald überdrüssig sein, um sie zu werben, ohne auf die gewünschte Reaktion zu stoßen. Er würde sich bald eine andere suchen.
»Weißt du, was ich an dir
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