Ein Hauch von Seide - Roman
vermietet.
Charlie wohnte im Erdgeschoss, und die Vorhänge waren, wie Janey erwartet hatte, noch vorgezogen.
»Es sieht so aus, als wäre Charlie noch im Bett«, sagte sie zu John und hatte ihres Freundes wegen ein schlechtes Gewissen, als sie die Missbilligung in Johns haselnussbraunen Augen sah. Rasch verteidigte sie Charlie. »Charlie ist eine Nachteule. Er kann einfach nicht schlafen, wenn er zu früh ins Bett geht.«
Das stimmte. Selbst wenn sie nicht ausgingen, um mit ihren Freunden irgendwo zu feiern, blieb er lange auf und hörte bis in die frühen Morgenstunden Schallplatten. Dann schlief er weit in den Tag hinein und versäumte manchmal wichtige Vorsprechtermine, weil er nicht rechtzeitig aus den Federn kam. Wenn andere, in seinen Augen weit weniger talentierte Schauspieler dann Arbeit bekamen, während er keine hatte, beschwerte er sich.
»Er ist sehr begabt«, fühlte Janey sich genötigt hinzuzufügen, obwohl John nichts weiter dazu gesagt hatte. »Er arbeitet oft als Dressman, aber sein Herz hängt an der Bühne, besonders moderne Stücke. Charlie will sich auf zeitgenössisches Drama konzentrieren. Er findet es unmoralisch, immer wieder Stücke von jemandem zu spielen, der seit vierhundert Jahren tot ist, und ist der Meinung, die Theater sollten Stücke von jungen Dramatikern auf die Bühne bringen.«
John nickte. Insgeheim fand er, dass es nichts Spannenderes gab als ein Stück von Shakespeare. Da verstand er wenigstens, worum es ging, und wenn er die vertrauten Zeilen hörte, ging ihm das Herz auf. Nicht wie bei dem modernen Zeug. Wie nannte man das noch? Spülbecken-Realismus? Er war Janeys Freund nie begegnet, aber er hatte Jay von ihm reden hören, und obwohl Jay es nicht offen gesagt hatte, hatte John doch den Eindruck gewonnen, dass er nicht besonders angetan war von ihm. Zwischen den Zeilen hatte John zudem herausgehört, dass Janey ihren Freund finanzierte, auch wenn darüber ebenfalls nie offen gesprochen worden war. John konnte sich keine Situation vorstellen, in der es für einen Mann akzeptabel war, sich von einer jungen Frau aushalten zu lassen, besonders nicht von einer anständigen jungen Frau wie Janey. Einer sehr netten jungen Frau. Er hatte sie immer schon gemocht. Er mochte sie sogar sehr.
Janey bemerkte, dass der junge Musiker aus der Wohnung über Charlie John mit einem höhnischen Blick bedachte, als sie ihm in dem schmalen Hausflur begegneten. Mit seinen langen Haaren, Jeans und Blumendruckhemd war der Musiker die Verkörperung der King’s-Road-Szene, während John, der eine graue Hose, einen marineblauen Blazer und ein weißes Hemd mit einer dezent gepunkteten Krawatte trug, eher aussah wie ein Vertreter der Generation von Janeys Vater.
Sie holte ihren Schlüssel zu Charlies Zimmer aus ihrer Handtasche und schloss die Tür auf.
Charlies möbliertes Zimmer hatte einen kleinen Küchenbereich, der mit einem Vorhang abgetrennt war. Der Rest wurde von einer Schlafcouch eingenommen, die die meiste Zeit ausgeklappt war, einem Campingtisch, zwei Thonet-Kaffeehausstühlen und einem großen alten Kleiderschrank auf drei Füßen mit einer kaputten Tür, die man mit einem Stück Pappe festklemmen musste. Ein Fernseher hockte gefährlich auf einem zu kleinen Tisch, während die Bücherregale links und rechts neben dem alten Gasofen unter dem Gewicht von Büchern, einem alten Dansette-Plattenspieler, einer Gitarre, die Charlie unbedingt hatte haben wollen, auf der er aber nie spielte, und dem gesammelten Staub von mindestens zwölf Monaten ächzte.
Die schweren Samtvorhänge vor den Fenstern kamen aus dem Laden in der Walton Street. Ein Kunde, für den neue Vorhänge genäht wurden, hatte sie wegwerfen wollen.
Janey kannte die Wohnung so gut – bis hin zu der abgetretenen Stelle in dem alten türkischen Teppich, der auf dem Linoleum lag, auf die man, wenn man hohe Absätze trug, tunlichst nicht trat, sodass sie im Düstern nicht zögern musste wie John.
Das Zimmer roch nach Marihuana, und Charlies Kleider lagen wie immer auf einem Haufen auf einem der Thonet-Stühle. Doch nicht nur Charlies Kleider. Janey sah, dass unter dem Bein von Charlies Jeans der bunte Stoff eines Sommerkleids hervorlugte. Eines Kleids aus ihrer eigenen Kollektion, registrierte sie abwesend, während ihr Hirn und ihr Herz rasten, um dahinterzukommen, was das Kleid dort zu bedeuten hatte. Sie blickte zum Bett hinüber, wo sie jetzt im Halbdunkel sehen konnte, dass unter der Decke zwei Köpfe steckten. Ihr
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