Ein Hauch von Seide - Roman
kommt.« Doch auch darauf reagierte Robbie nicht. Er hatte sich mit geschlossenen Augen auf der Seite zusammengerollt, das Gesicht vom Fenster abgewandt, und atmete mühsam und ungleichmäßig.
Wo blieb Drogo nur? Er müsste doch längst da sein. Emerald stand auf, trat ans Schlafzimmerfenster und blickte besorgt hinunter auf den Platz.
Er hatte zehn Minuten gesagt, und das war jetzt über eine Viertelstunde her.
Ein Rolls-Royce, imposant und schimmernd, bog in den Cadogan Place ein und versperrte ihr kurzzeitig den Blick auf den Gehweg. Während Emerald ungeduldig darauf wartete, dass er weiterfuhr, sah sie, dass er langsamer fuhr, als er sich ihrer Adresse näherte, und dann entdeckte sie Drogo, der mit raschen Schritten die Straße herunter auf das Haus zukam. Erleichtert flog sie fast die Treppe hinunter, um ihn einzulassen.
Doch als sie die Tür öffnete, stand er ins Gespräch vertieft mit einem sehr viel älteren Mann, der aus dem Rolls-Royce gestiegen war, auf dem Gehweg.
Außer sich vor Angst wollte Emerald ihn gerade auf sich aufmerksam machen, da wandte er sich ihr zu und sagte: »Ich habe mir erlaubt, Dr. Salthouse anzurufen und ihn zu bitten, direkt hierherzukommen, Emerald.«
Ein Arzt! Emerald hätte weinen können vor Dankbarkeit.
»Er ist oben«, sagte sie zu den beiden Männern.
Es schien ewig zu dauern, bis der Arzt Robbie vollständig untersucht hatte. Emerald beantwortete seine Fragen, so gut sie konnte.
»Als er sagte, er hätte Kopfschmerzen, und ihm wäre übel, habe ich gedacht, er würde nur so tun. Das habe ich als Kind auch gemacht, wenn ich mich vor etwas drücken wollte.«
Es war ihre Schuld, dass Robbie so krank war. Ganz allein ihre Schuld. Ihr Herz fühlte sich an, als würde es von riesigen Kneifzangen gepackt und auseinandergerissen. Wieso hatte sie bis jetzt nicht gewusst, wie teuer ihr Sohn ihr war, wie unendlich viel wichtiger als alles andere im Leben?
»Es ist meine Schuld, dass es ihm so schlecht geht. Ich hätte ihn niemals allein lassen dürfen.«
Hilflos blickte sie auf ihren kranken Sohn.
»Du darfst dir nicht die Schuld geben.« Drogos Stimme war ruhig und fest, die Berührung seiner Hand unerwartet tröstlich. Am liebsten hätte sie sich daran geklammert.
Der Arzt hatte die Bettdecke zurückgeschlagen und Robbies Schlafanzugjacke aufgeknöpft. Auf seinem Bauch war ein Ausschlag.
»Was ist das?«, fragte Emerald den Arzt besorgt. »Die Windpocken hatte er schon, und die Masern auch und …«
»Ich denke, es ist im Augenblick das Beste für Ihren Sohn, Lady Emerald, wenn wir ihn ins Krankenhaus bringen«, sagte Dr. Salthouse, ohne ihre Frage zu beantworten.
»Krankenhaus?« Ihr besorgter Blick richtete sich auf Drogos Gesicht, nicht auf das des Arztes. »Dann ist es … ernst?«
Dr. Salthouse sah sie an und sagte dann langsam: »Ich kann es noch nicht mit Sicherheit sagen, aber es könnte sein, dass Robbie Meningitis hat. Wir hatten über den Sommer einige Fälle in der Stadt, und es ist natürlich ansteckend.«
Emerald starrte ihn an.
»Meningitis? Aber das ist … das ist sehr gefährlich, nicht wahr? Kinder sterben daran. Ich …« Ein Blick in Drogos Gesicht verriet ihr, dass sie recht hatte und dass er ihre Besorgnis teilte.
»Wir dürfen nicht schwarzsehen, Lady Emerald. Wir wissen noch nicht, ob Robbie tatsächlich Meningitis hat, und wenn, dann haben wir Penizillin.«
»Aber ich habe erst letzte Woche in der Zeitung gelesen, dass kürzlich drei Kinder daran gestorben sind.«
»Wenn ich Ihr Telefon benutzen dürfte, Lady Emerald, dann kümmere ich mich darum, dass Robbie in der Ormond Street aufgenommen wird. Sie schicken einen Krankenwagen.«
»Ich möchte mit ihm fahren.«
Der Arzt runzelte die Stirn.
»Lady Emerald und ich folgen dem Krankenwagen in meinem Wagen, Doktor«, schlug Drogo vor, indem er die Sache in die Hand nahm.
Das Undenkbare und Unfassbare war wahr: Robbie hatte tatsächlich Meningitis, er war ein sehr kranker kleiner Junge.
Man hatte ihm Aspirin gegeben, um das Fieber zu senken, und Penizillin gegen die Entzündung.
»Und wenn es nicht wirkt?«, hatte Emerald den Kinderarzt im Krankenhaus gefragt.
Sein Blick bestätigte ihr nur, was sie schon wusste.
»Dann wird er sterben, nicht wahr?«, fragte sie hysterisch. »Mein Baby wird sterben, und es ist meine Schuld.«
»Das wissen wir nicht«, hatte der Kinderarzt gesagt. »Meningitis ist eine sehr ernste Erkrankung, aber bei manchen Kindern verschwindet sie über
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