Ein Hauch von Seide - Roman
nichts ist. Es braucht das Auge und die Hand eines Experten, um es in etwas Schönes zu verwandeln. Durch die Länge ist es so schwer, dass es seiner natürlichen Bewegung und seines Rhythmus beraubt ist. Es ist, als versuchte man mit einem Sinfonieorchester Jazz zu spielen: Zu viel Gewicht und Tradition drücken die Magie der Musik nieder.«
Rose sah das Licht vom Fenster auf der Schere aufblitzen, die Josh stets bei sich trug.
»Nein«, protestierte sie, doch es war zu spät. Lange schwarze Haarsträhnen fielen zu Boden, während sie auf Joshs Anweisung hin mit gesenktem Kopf dasaß und ihre Panik unter dem fast rhythmischen Schnippen der Schere und dem Klicken der Kamera auf seltsame Weise verebbte, durchsetzt von den Fragen und Erklärungen, die die beiden Männer austauschten.
»Sieh dir das an«, sagte Josh jetzt. »Sieh dir an, wie ich das Haar befreie, damit es sich bewegen und schwingen kann. Sieh dir an, wie es lebendig wird.«
»Bist du dir sicher, dass es nicht zu kurz wird?«, meinte Ollie, als er das Stativ hinter Rose stellte.
Rose wünschte, sie wäre in einem traditionellen Salon und hätte einen Spiegel vor sich, damit sie sehen könnte, was los war, statt in Angst und Schrecken vor dem Ergebnis von Joshs Bemühungen in diesem leeren Raum zu sitzen.
» Vogue schickt meine Chefin nach Venedig, um über das dortige High-Society-Nachtleben zu berichten, und sie hat gesagt, sie würde mich mitnehmen.«
Ella versuchte nicht, den Stolz in ihrer Stimme zu verbergen, als sie ihrer Stiefmutter, die unerwartet in dem Haus in Chelsea aufgetaucht war, die Neuigkeit erzählte. In der ausgedehnten Familie bekam Ella selten die Gelegenheit, Amber ganz für sich zu haben, und als ältestes Kind empfand sie es immer als ihre Pflicht, zurückzutreten, wenn die jüngeren um Ambers Aufmerksamkeit buhlten.
Doch jetzt, da Rose und Janey nicht da waren, konnte sie ihre Freude, Ambers ungeteilte Aufmerksamkeit für sich zu haben, nicht verbergen.
»Dann bist du glücklich bei Vogue ?«, fragte Amber sie stolz.
»Schon, aber ich wünschte mir jetzt doch, ich hätte einen Kurs in richtigem Journalismus besucht. Ich würde lieber lernen, wie man Artikel über wichtige Dinge schreibt und nicht nur über neue Lippenstiftfarben«, erklärte sie Amber mit einem wehmütigen Blick. »Im Augenblick passiert so viel, und andauernd verändern sich Dinge. Frauen sind nicht mehr nur Töchter oder Ehefrauen oder Mütter, sie sind richtige Menschen, die richtige Dinge tun.«
Sie sah so ernst aus und sprach so ernst, dass Amber fest entschlossen war, nicht zu lächeln. Sie konnte sich jedoch leicht vorstellen, was ihre Großmutter, die ohne fremde Hilfe ihre eigene Firma geführt und über Jahre ihr eigenes Vermögen verwaltet hatte, zu Ellas naiver Bemerkung zu sagen hätte.
Doch Ella hatte nicht ganz unrecht: Moderne junge Frauen nahmen viel größere persönliche Freiheiten für sich in Anspruch als ihre Generation. Die meisten Beobachter führten das auf den Krieg zurück und auf die Tatsache, dass Frauen in diesen schrecklichen Jahren infolge der Kriegsanstrengungen zum Wohle des Landes sehr viel unabhängiger geworden waren.
»Na, du wirkst ziemlich zufrieden«, sagte Amber. »Mir war gar nicht bewusst, dass du so ein Plappermäulchen bist. Die Arbeit bei Vogue bekommt dir gut, Ella. Sie hilft dir, mehr aus dir herauszugehen.«
Ella lächelte, doch in Wirklichkeit waren es ihre Diätpillen, die sie munterer machten und ihren Appetit zügelten. Ihr war aufgefallen, dass sie kurz nach der Einnahme mehr Lust hatte loszuplappern. Als sie das Libby gesagt hatte, hatte die gemeint, das sei noch ein Vorteil von Dr. Williamsons wunderbaren kleinen Pillen, dass sie einem viel mehr Energie gaben. Bis jetzt war niemandem aufgefallen, dass Ella abgenommen hatte, aber das wollte sie auch gar nicht. Sie wollte abnehmen, um sich selbst zu beweisen, dass sie es konnte. Das Letzte, was sie wollte, war, dass Oliver Charters es bemerkte und das Falsche dachte, nämlich, sie würde es tun, um ihn zu beeindrucken. Dem war gewiss nicht so.
Amber war hauptsächlich nach London gekommen, um mit ihrer Freundin Beth die letzten Vorkehrungen für Emeralds Ball zu besprechen und sich am Montag mit Mr Melrose zu treffen. Der Anwalt hatte sie am Freitagabend ganz aufgeregt angerufen, um ihr mitzuteilen, dass ihn ein junger Mann angerufen habe, der behauptete, der gesuchte Erbe des Herzogstitels zu sein. Dieser junge Mann würde am Montag zu Mr
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