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Ein Held unserer Zeit

Ein Held unserer Zeit

Titel: Ein Held unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Lermontow
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daß es unmöglich sei, Blindheit zu heucheln und zudem, zu welchem Zweck? Aber ich kann mir nicht helfen – das Vorurtheil siegt bei mir mitunter über den Verstand ...
     
    "Bist du der Sohn der Herrin vom Hause?" fragte ich endlich den Knaben.
     
    "Nein!"
     
    "Wer bist du denn?"
     
    "Eine arme Waise."
     
    "Und hat die Herrin Kinder?"
     
    "Nein, sie hatte eine Tochter; aber die ist mit einem Tataren über das Meer entflohen."
     
    "Wer war dieser Tatar?"
     
    "Ja, wer weiß das! Ein Tatar aus der Krim – ein Schiffer aus Kertsch."
     
    Ich trat in die Hütte. Zwei Bänke, ein Tisch und ein großer Schrank neben dem Ofen bildeten das ganze Mobiliar. Nicht ein einziges Heiligenbild an der Wand – ein böses Zeichen! Durch die zerbrochenen Scheiben blies die Seebrise.
     
    Ich nahm ein Wachslicht aus meinem Koffer, zündete es an und begann auszupacken. In die eine Ecke stellte ich mein Gewehr, auf den Tisch legte ich die Pistolen. Dann hüllte ich mich in meine Burka und streckte mich auf eine Bank aus, während mein Kosak sich auf einer andern einrichtete. Nach zehn Minuten schnarchte er ... aber ich vermochte nicht einzuschlafen: Mir war, als ob vor mir in der Dunkelheit sich fortwährend die blinde Waise mit den weißen Augen hin und herbewege.
     
    So verstrich etwa eine Stunde. Der Mond schien durch das Fenster, und sein Licht spielte auf den Dielen der Stube. Plötzlich huscht ein Schatten über die mondbeleuchtete Stelle des Zimmers. Ich stehe auf und blicke durchs Fenster. Eine menschliche Gestalt eilt zum zweiten Mal an demselben vorüber und verschwindet, Gott weiß wohin. Ich konnte nicht voraussetzen, daß dieselbe an der Böschung des Ufers entlang entschlüpft sei; und doch war kein anderer Ausweg vorhanden. Ich warf sofort meinen Beschmet um, ergriff meinen Dolch und ging ganz leise aus der Hütte, – und da begegnet mir der kleine Blinde.
     
    Ich verbarg mich hinter dem Zaune, und er ging sicher aber vorsichtig an mir vorüber. Unter dem Arm trug er etwas wie ein Bündel; und auf den Hafen zugehend, schritt er über einen schmalen steilen Fußpfad hinab.
     
    An diesem Tage, dachte ich bei mir, werden die Stummen reden und die Blinden sehen, und ich folgte ihm aus einiger Entfernung, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
     
    Mittlerweile begann der Mond sich mit Wolken zu bedecken, und über das Meer breitete sich dichter Nebel aus; kaum vermochte man durch denselben die Schiffslaterne auf dem Hintertheil eines nahen Schiffes zu unterscheiden; die weißlichen Wellen schlugen schäumend gegen das Ufer und drohten jeden Augenblick den Knaben zu verschlingen. Nur mit Mühe vermochte ich ihm auf unserm abschüssigen Wege zu folgen. Da blieb er einen Augenblick stehen, dann wandte er sich nach rechts. Er schritt so nahe am Wasser hin, daß es schien, als würde ihn jeden Augenblick eine Welle erfassen und mit sich fortreißen. Aber offenbar war dies nicht sein erster Gang, nach der Sicherheit zu urtheilen, mit welcher er von Stein zu Stein schritt und den Abgrund vermied. Endlich blieb er von neuem stehen, als hätte er irgend ein Geräusch gehört, setzte sich auf die Erde und legte sein Bündel neben sich. Hinter einem vorspringenden Felsen stehend, beobachtete ich alle seine Bewegungen. Einige Minuten verstreichen. Da erscheint in der entgegengesetzten Richtung eine weiße Gestalt. Sie nähert sich dem Blinden und setzt sich neben ihn. Der Wind ist mir günstig: er trägt mir von Zeit zu Zeit ihr Gespräch zu.
     
    "Welch ein heftiger Sturm!" sagte eine Frauenstimme. "Janko wird nicht kommen."
     
    "Janko fürchtet den Sturm nicht," antwortete der Blinde.
     
    "Aber der Nebel wird immer dichter," entgegnete die Frauenstimme mit einem Ausdruck von Traurigkeit.
     
    "Bei Nebelwetter ist es viel leichter die Schiffswache zu täuschen," war die Antwort.
     
    "Und wenn er ertrinkt?"
     
    "Nun – dann gehst du nächsten Sonntag ohne das neue Band zur Kirche."
     
    Es trat ein Schweigen ein. Ein Umstand fiel mir sofort auf: Mit mir hatte der Blinde Kleinrussisch gesprochen; jetzt dagegen drückte er sich in reinem Russisch aus.
     
    "Siehst du wol, daß ich Recht hatte," nahm der Blinde wieder das Wort und klatschte in die Hände. "Janko fürchtet weder das Meer noch den Sturmwind, weder den Nebel noch die Küstenwache. Horch! das ist nicht das Klatschen der Wellen; nein, ich täusche mich nicht, – das sind seine langen Ruderstangen."
     
    Die Frau sprang auf und schaute unruhig in die

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