Ein Herzschlag bis zum Tod
zurückkehren. Doch ich entschied mich anders.
»Na gut«, sagte ich. Dumond nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Was vielleicht auch der Fall war.
Ich brauchte keine zehn Minuten zum Packen: Laptop, Kleidung, |103| Pass, Leine, Hundefutter, Tigers Impfbescheinigung und meine kleine Digitalkamera. Für mein Fahrrad war kein Platz, aber ich konnte auch eine Weile ohne leben. Während Dumond meine Taschen zum Auto brachte, wählte ich rasch Thomas’ Nummer, wohl wissend, dass er nicht zu Hause war. Es war feige, aber man kann nicht immer ein Held sein.
»Hi, ich bin es. Alles in Ordnung. Ich … ich muss für ein paar Tage weg. Du kannst mich aber per E-Mail erreichen, und ich, hm, ich versuche anzurufen.« Dann hängte ich mit schlechtem Gewissen ein. So eine Freundin hatte Thomas nicht verdient. Danach rief ich Baker an, die auch nicht zu Hause war. Das machte es mir leicht. Sie hatte schon versucht, mir die erste Fahrt nach Ottawa auszureden, und würde es vielleicht wieder versuchen. Also erzählte ich ihrem Anrufbeantworter, dass ich mit Paul und seinem Vater nach Ottawa fahren und später anrufen würde. Die geliehene Kleidung bekäme sie später zurück. Für Zach hängte ich einen Zettel an den Kühlschrank und schloss meine Wohnungstür ab.
Paul und sein Vater warteten neben dem Auto. Für Paul hatte wohl ohnehin festgestanden, dass ich mitkommen würde. In seiner schönen neuen Welt würde die Frau, die ihn gerettet hatte, natürlich mit in sein neues Zuhause fahren. Er sprang auf den Rücksitz, und Tiger legte sich auf eine alte Decke. Wir verließen die Stadt, ohne dass ich Dumond noch einmal den Weg erklären musste.
Es fühlte sich irgendwie richtig an, in diesem Auto zu sitzen, Lake Placid hinter mir zu lassen und zu hören, wie Paul Tiger auf dem Rücksitz etwas erzählte. Als startete ich in ein neues Abenteuer.
An der Grenze erklärte Dumond der Zollbeamtin, dass wir nach einem Besuch in Lake Placid nach Ottawa zurückkehrten. Sie warf einen Blick auf unsere Pässe und Tigers Tollwut-Bescheinigung. Dumond fügte hinzu, er habe Kinderkleidung gekauft, doch sie winkte uns einfach durch. In Cornwall machten |104| wir Pause und aßen bei Harvey’s Hamburger und Pommes, das Idealbild einer glücklichen kleinen Familie. Kurz darauf schlief ich im Auto ein und wurde erst wach, als wir vom Queensway nach Ottawa abbogen.
|105| 2. Teil
»Je entspannter man ist, desto leichter bleibt man über Wasser.«
Aus einem Blog zum Thema Schwimmenlernen
|107| 17
Es war ein komisches Gefühl, wieder vor dem Tudor-Haus aus dem Mercedes zu steigen, genau wie vor etwas über vierundzwanzig Stunden. Es erinnerte mich an den Film
Und täglich grüßt das Murmeltier
mit Bill Murray, in dem er dazu verdammt ist, denselben Tag so lange zu durchleben, bis er sich richtig verhält. Und da waren wir wieder, nur brachten wir diesmal das vermisste Kind nach Hause.
Vielleicht würde jetzt alles gut.
Als wir die Autotüren zuschlugen, hallte das Geräusch laut durch die Stille. Ich hörte überdeutlich unsere Schritte, die auf den flachen Steinen der Einfahrt knirschten, und das Rascheln der Blätter im Wind. Paul klammerte sich an die Hand seines Vaters, der sich zu ihm hinunterbeugte und mit ihm sprach. In der Tür entdeckte ich eine zierliche Frau von etwa sechzig Jahren. Ihr graues Haar war nach hinten gekämmt, ihr ganzer Körper strahlte Besorgnis aus. Paul riss sich los und stürzte in ihre Arme. Ich sah, wie sie wieder und wieder seinen Namen sagte. Tränen strömten über ihre Wangen.
So viel zu meiner Vorstellung, Dumond habe ein Verhältnis mit dem zur Haushälterin gewordenen Kindermädchen. Sie blickte hoch, als wir uns näherten.
Es war ein Fehler, herzukommen
, dachte ich. Sie gehörte zu Pauls Leben, stand für Vergangenheit und Zukunft. Ich war nur ein Zwischenspiel gewesen.
»Elise, das ist Troy Chance, die Paul für uns gefunden hat«, erklärte Dumond. »Troy, das ist Elise, Pauls Kindermädchen.«
|108| Die Frau gab Paul frei und zog mich in eine raue Umarmung. Ich spürte, dass sie mit heftigen Gefühlen kämpfte. Sie sagte nichts und schaute mich auch nicht an, sonst hätten die Emotionen sie wohl überwältigt. Dann sah sie wieder zu Paul und sprudelte auf Französisch los. Die beiden gingen gemeinsam davon, in Richtung Küche, vermutete ich. Kekse und Milch, wie es sich gehörte, wenn ein vermisster Junge heimkehrte. Mich durchzuckte ein Stich, der unangenehme Ähnlichkeit mit
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