Ein Herzschlag bis zum Tod
Eifersucht hatte.
Aber dies waren sein Kindermädchen, sein Vater, sein Zuhause. Die Zeit bei mir war natürlich um Längen besser gewesen als die Gefangenschaft, doch kein Vergleich zu dem ganz normalen Leben, das er hier führen würde.
Als ich mich zu Dumond umdrehte, huschte ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht, und ich erkannte, dass meine Gefühle im Vergleich zu seinem Schmerz absolut unbedeutend waren. Wenn man sieht, wie der verloren geglaubte Sohn mit dem Kindermädchen davonmarschiert, ohne sich einmal umzudrehen – das muss der Augenblick sein, in dem man sich wünscht, man könnte all die Überstunden und Abende in der Firma ungeschehen machen und noch einmal ganz von vorn beginnen.
Er bekam nun eine zweite Chance – jedenfalls bei seinem Sohn.
Als ihre Schritte verklungen waren, sagte er: »Elise kennt Paul seit seiner Geburt.«
Ich machte ein unverbindliches Geräusch.
»Sie hat sich immer die Schuld daran gegeben, dass Paul entführt wurde. Sie glaubt, sie hätte ihn beschützen können, wenn sie an jenem Tag zu Hause gewesen wäre.«
Ich stellte mir vor, wie das winzige Kindermädchen versuchte, die Entführer abzuwehren. »Aber sie hätte nicht –«
»Ich weiß«, sagte er und nahm meine Taschen. »Mit Logik hat das nichts zu tun. Das weiß ich nur zu gut. Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer.«
|109| Tiger und ich folgten ihm. Wir betraten ein geräumiges Zimmer mit großen Fenstern, durch die das Sonnenlicht hereinströmte. Breites Bett, heller Holzboden und Möbel im Shaker-Stil. Genau die hätte ich mir ausgesucht, wenn ich das Zehnfache verdienen würde. »Ich glaube, es ist alles da, was Sie brauchen«, sagte Dumond und zeigte auf das benachbarte Badezimmer. Ich sah auf den ersten Blick, dass es mit Föhn und Kosmetika ausgestattet war wie eine Wellness-Oase.
»Machen Sie es sich gemütlich. Falls Sie etwas brauchen, fragen Sie Elise. Die Küche ist links von der Eingangshalle. Ich zeige Paul das Haus. Abendessen gibt es in etwa einer Stunde.«
Ich hatte angenommen, er werde sofort mit Paul zur Polizei fahren, doch hatte er für morgen zunächst einen Arzttermin vereinbart. Er schien daran gewöhnt, seinen Willen durchzusetzen. Ich setzte mich aufs Bett und wippte auf und ab: eine feste Matratze, genau wie ich es mochte.
Na schön, die Situation war gewöhnungsbedürftig. Aber es gibt keine goldene Regel, wenn man seinen mutterlosen Sohn, der fünf Monate lang entführt war, in sein neues Leben einführt. Vielleicht lautete der logische Schritt eins:
Nimm den Menschen mit, der deinen Sohn gerettet hat.
Ich schaute mich um. Ich mag Gästezimmer und Hotels, baue mir dort gern ein kleines Nest und richte mich mit den wenigen Sachen ein, die ich dabeihabe. Ich packte alles aus und stellte meine Laptoptasche neben den Schreibtisch. Dafür brauchte ich etwa fünf Minuten. Dann legte ich Tigers Decke auf dem Boden neben das Bett, damit es aussah, als schliefe sie dort unten. Sie beobachtete mich die ganze Zeit interessiert.
Wenn ich hier sitzen bliebe, käme ich mir vor wie Jane Eyre – eine Gouvernante, die auf Anweisungen wartet. Doch die neue Troy würde sich nicht scheu verstecken, sondern die Tür öffnen und das Zimmer verlassen. Was ich auch tat.
Ich kam an Pauls Zimmer vorbei und musste den Drang unterdrücken, seine Tasche auszupacken.
Nicht mein Haus, nicht
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mein Kind.
Dies würde mein inneres Mantra werden, solange ich hier war.
Ich schlenderte durchs Wohnzimmer und Esszimmer, die geschmackvoll, für mein Empfinden aber zu karg eingerichtet waren. Ich setzte mich probeweise auf das Ledersofa: bequem, aber kalt. Ich fragte mich, ob Dumonds Frau die Möbel ausgewählt hatte. Persönliche Dinge waren nicht zu entdecken: keine Zeitschriften, keine Fotos, kein Nippes. Vielleicht hätte ihn all das zu sehr an Frau und Kind erinnert.
Dann entdeckte ich die Bibliothek, und es war Liebe auf den ersten Blick: eingebaute Bücherregale, ein Kamin aus runden Steinen, ein straff gepolstertes Sofa und Sessel, in die man sich kuscheln konnte. Ich ging an den Regalen entlang und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. Neue und alte, bunt gemischt – Romane, Sachbücher, Englisch, Französisch. Ich entdeckte eine französische Ausgabe von
Der Graf von Monte Christo
, ein Roman, den ich mit zwölf Jahren heiß geliebt hatte.
Also besaß das Haus doch eine gewisse Persönlichkeit – und damit vermutlich auch sein Eigentümer. Frohen Herzens ging ich weiter. Die Küche war
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