Ein Herzschlag bis zum Tod
kostenloses Programm namens Advanced System Care herunter, mit dem man Spyware finden, kaputte Registry-Verbindungen reparieren und andere Probleme lösen kann. Ich löschte mehrere unbenutzte Anwendungen, die im Hintergrund liefen. Man konnte sie noch öffnen, doch sie nahmen keinen Platz im Arbeitsspeicher mehr ein. Dann öffnete ich Outlook Express und komprimierte die Ordner. Ich selbst war längst zu Mozilla Thunderbird gewechselt. Dann bemerkte ich eine zweite Identität namens Julia.
Eine Assistentin? Eine Freundin? Hausgast? Weibliches Alter Ego?
Ich stellte mir Philippe in Frauenkleidern vor und musste laut lachen.
Das Defragmentieren, bei dem im Grunde nur gespeicherte Daten umgelagert werden, damit man einen schnelleren Zugriff bekommt, dauerte eine Weile. Also hob ich es mir für den Schluss auf.
Jetzt ging es an die Recherche.
Zuerst suchte ich nach den Stichworten
entführte Kinder
und rief Seite um Seite mit Informationen über Kinder auf, die in den USA, Italien, Japan, Belgien, Österreich und anderen |137| Ländern entführt worden waren. Einige waren entkommen oder gerettet worden; die meisten jedoch nicht. Ich war entsetzt, dass es so viele waren.
Ich wollte Genaueres wissen und suchte daher nach
psychische Folgen Kindesentführung.
Es erschienen zahllose Fälle, in denen es um elterliches Sorgerecht ging, und ich suchte noch einmal, wobei ich das Wort
Eltern
ausschloss. Dann klickte ich mich durch die Ergebnisse und las auf Amazon Auszüge aus verschiedenen Büchern.
In
Gekidnappt: Kindesentführung in Amerika
erfuhr ich etwas über die psychologische Macht, die Entführer über ihr Opfer haben, und dass man ein gestohlenes Auto leichter nachverfolgen kann als ein gestohlenes Kind. In
Kinder, die zu viel sehen
las ich über kalifornische Kinder, die auf dem Weg ins Sommerlager aus ihrem Schulbus entführt und sechzehn Stunden begraben worden waren. Danach versteckten sich die jüngeren, wann immer sie einen Schulbus sahen, und hatten Probleme damit, positiv in die Zukunft zu blicken – der Autor bezeichnete es als
Gefühl einer verkürzten Zukunft oder tiefgreifenden Pessimismus.
Es war wohl eine elegante Umschreibung für
Sie wissen, dass die Welt ein schlimmer Ort ist, und sind sich nicht sicher, ob es ein Morgen gibt
.
Natürlich würde Paul ähnlich empfinden.
Ich schloss meinen Laptop an Philippes Modem an, um meine E-Mails herunterzuladen, und gleich die erste Meldung war ein
Hi, Troy, ich hoffe, alles ist in Ordnung
von Thomas.
Scheiße. Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. Aber selbst ich konnte nicht einfach tagelang ohne Erklärung verschwinden und schrieb daher nach einigen Fehlstarts, dass ich einen kanadischen Jungen gefunden und nach Hause gebracht hätte. Nun würde ich ihm helfen, sich wieder einzuleben. Das war kurz und bündig. Ich ließ die
mutige Rettung
, die
Entführung aus Montreal
und die
ermordete Mutter
aus. Außerdem meldete ich mich bei meinen Eltern, damit sie wussten, dass |138| sie mich nicht zu Hause erreichen konnten. Es war ohnehin unwahrscheinlich, dass sie anriefen. Dass Simon herkam, verschwieg ich.
Zeit zum Aufbruch. Ich schaute mir die Strecke zum Flughafen im Internet an, startete die Defragmentierung und sagte Elise Bescheid, dass sie mich zu meinem Auto bringen könnte.
Simons Flug hatte sechs Minuten Verspätung. Er kam mit energischen Schritten den Gang entlang, einen kleinen schwarzen Seesack über der Schulter und eine Aktentasche in der Hand. Reisekoffer mit Rollen kamen für ihn nicht in Frage. Er war groß und dünn wie ich, mit einer aristokratischen Nase wie ich, während unsere Mutter und unsere Schwestern Stupsnasen hatten. Seine dunkelblonden Locken machten Frauen verrückt, und er wusste instinktiv, welche Kleidung ihm am besten stand. Heute trug er eine makellose schwarze Jeans und einen Baumwollpulli.
Ich umarmte ihn fester als sonst. In unserer Familie klopft man sich eher auf die Schulter, wenn ein persönlicher Kontakt erforderlich ist. Er trat einen Schritt zurück und schaute mich an. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Yep.« Natürlich verkündet man nicht in einem Flughafenterminal:
Ich bin ganz vernarrt in diesen kleinen Jungen, die Polizei scheint mich zu verdächtigen, und sein Vater ist … ach, egal.
»Lass uns was essen; ich verhungere gleich«, sagte er fröhlich.
»Du bist immer kurz vorm Verhungern.« Also fuhr ich zu einem Great Canadian Bagel.
Simon wählte einen Bagel mit Möhren, Ananas und
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