Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
das, was auf der Main vorgeht, gut Bescheid zu wissen. Nein, über den Vet hat sie nichts gehört, aber sie wird die Ohren offenhalten. Was Dirtyshirt Red betrifft, jawohl, dieser hinterhältige Knilch hat sich hier herumgetrieben und ebenfalls nach dem Vet gesucht.
Guttmann kann es nicht glauben, daß sie jemals mit ihrem Körper Geld verdient hat. Sie hat das Gesicht eines altgewordenen Boxers, breiig und geschwollen, was vom dick aufgetragenen Rouge eher betont als kaschiert wird, einen Lippenstiftmund, größer als ihr richtiger, und lange falsche Wimpern, von denen eine im Augenwinkel abgegangen ist. Während sie weitergehen, fragt er LaPointe nach ihr.
»Das Gesicht hat ihr Lude mit 'ner Coke-Flasche so zugerichtet«, sagt LaPointe.
»Was geschah mit ihm?«
»Auseinandergenommen haben sie ihn und ihm geraten, sich nie mehr auf der Main blicken zu lassen.«
»Wer hat ihn auseinandergenommen?«
LaPointe zuckte die Achseln.
»Und was hat sie gemacht?«
»Ein paar Jahre ist sie noch auf den Strich gegangen, bis sie dann zu dick wurde.«
»So, wie die aussieht?«
»Sie war noch jung. War noch gut im Fleisch. Hat meistens Betrunkene abgeschleppt. Schnaps und Ständer sind die schlimmsten Blender. Sie ist 'ne gute Haut. Geht putzen und schrubben. Sie führt Martin den Haushalt.«
»Martin?«
»Pater Martin. Dem Gemeindepriester.«
»Die ist Haushälterin beim Priester?«
»Die rackert wie ein Pferd.«
Guttmann schüttelt den Kopf. »Wenn Sie meinen.«
Wieder auf der St. Laurent, geraten sie in die letzten Ausläufer des Fußgängerstromes. Schlangen europäischer Kinder mit Schulranzen auf dem Rücken jagen zum Mißvergnügen der Menge hintereinander her. Kleine Gruppen chinesischer Kinder mit artigen Gesichtern laufen hurtig und ohne zu schwatzen. Arbeiter in Overalls stehen vor ihren Werkstätten und inhalieren die letzten Züge ihrer Zigaretten, ehe sie sie in den Rinnstein schnipsen und wieder an die Arbeit gehen. Junge Mädchen von der Textilfabrik machen sich, zu dritt untergehakt, laut singend einen Spaß daraus, durch die Menge zu pflügen. Alte Frauen watscheln mit Einkaufsnetzen daher, die ihnen gegen die Knöchel schlagen. Büroangestellte und Schneider winden sich, ihren schmächtigen Leib in dicke Mäntel verpackt, mißtrauisch durch die Menge, ängstlich darauf bedacht, jeden Kontakt zu vermeiden. Der Verkehr dröhnt, Geschimpfe wird laut. Neon, Lärm und Einsamkeit.
»Na, das ist doch mal was«, sagt Guttmann und schaut auf ein Schild über einem Damenbekleidungsgeschäft:
N ORDAMERIKANISCHER M ASSKONFEKTIONS -D ISCOUNT
Das Geschäft hat neu eröffnet, und zwar dort, wo früher eine Pizzeria war. Die Besitzer sind neu in der Branche und neu auf der Main. Alteingesessene Geschäftsinhaber sprechen von dem Laden als der ›Schmatteria‹.
»Schmatteria?« fragt Guttmann.
»Ja, 'ne Art Witz. Also … eine Pizzeria, die Schmattes verkauft.«
»Das verstehe ich nicht.«
LaPointe runzelt die Stirn. Das ist schon das zweite Mal, daß der Bengel einen Straßenwitz nicht versteht. Man muß die Straße lieben, um ihre Witze zu verstehen. »Ich dachte, Sie wären jüdisch«, sagt er unwirsch.
»Nicht direkt. Mein Großvater war jüdisch, aber mein Vater ist ein hundertprozentiger Kanadier mit allem, was dazugehört, von herzhaftem Händeschütteln bis zur symbolischen Sonnenbräune, die er sich zweimal im Jahr in Florida aufbrennen läßt. Aber was hat das mit dieser … wie sagen Sie dazu …?«
»Schmatteria. Vergessen Sie's.«
LaPointe weiß nicht mehr, daß er vor fünfundzwanzig Jahren, als die heute alteingesessenen Juden frisch auf die Main kamen, selber nicht gewußt hat, was eine Schmatte ist.
Sie steigen eine dunkle Treppe mit losen Metalleisten hinauf, die ursprünglich als Schuhabstreifer für festgepappten Schnee gedacht waren, jetzt aber eher eine Gefahr sind. Sie gehen in eine der Hallen im zweiten Stock, von der aus man die St. Laurent überblickt. Es ist noch zu früh, der Betrieb hat noch nicht angefangen, die Halle ist fast leer. Eine alte Frau spricht mit sich selbst, während sie mit ihrem Mop oberflächlich durch die Ecke bei der Musikbox fährt. Die einzigen hier sind der Barmann und ein Gast, eine stark geschminkte Frau in weißen Seidenhosen.
LaPointe bestellt einen Armagnac und guckt, während er ihn schlürft, runter auf die Straße, wo der nach Norden fließende Einbahnverkehr noch voll im Gange ist und der Fußgängerstrom sich staut. Er hat sich für ein
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