Ein Hoffnungsstern am Himmel Roman
beschloss, einen Spaziergang zu machen. Die Abende waren im Vergleich zu den glühend heißen Tagen angenehm kühl, doch es war kaum vorstellbar, dass in den kältesten Monaten die Temperatur in der Wüste bis knapp unter den Gefrierpunkt fallen konnte.
Als die Schatten der Dunkelheit alles um sie herum einhüllten, stieg der volle Mond wie ein riesiger silberner Ball am Himmel auf. Er tauchte die Erde in ein blasses Licht, das sogar die härtesten Kontraste in der Wüstenlandschaft weicher werden ließ. Estella ging in Richtung Rennstrecke. Sie hatte erwartet, dort ein ziemliches Durcheinander vorzufinden, doch Frances Waitman, die Sprecherin, hatte nach dem letzten Rennen alle Anwesenden gebeten, mit aufzuräumen.
Anders als viele Stadtmenschen waren die Leute auf dem Land stets bereit, einander auszuhelfen – was auch Estella noch erfahren sollte.
Als sie die Rennbahn betrat, stellte sie fest, dass die Hufe der galoppierenden Pferde den Sand in grauweißen, feinen Staub verwandelt hatten. Sie lief eine Weile die Bahn entlang und stieg dann wieder auf die Sanddüne. Auf dem Kamm setzte sie sich zu Boden, um zu Atem zu kommen. Die Stadt lag still und friedlich im Mondlicht. Fast hätte Estella glauben können,dass alles so war, wie es sein sollte. Gern hätte sie sich dem Gefühl überlassen, dass nicht alle Menschen im Umkreis von hunderten von Meilen enttäuscht waren, weil ihr Champion es nicht einmal bis auf die Bahn geschafft hatte. Und schuld daran war sie, Estella, weil sie den Leuten Hoffnung gemacht hatte, Stargazer könne das Rennen von Kangaroo Crossing gewinnen. Immerhin hatte sie Charlie ausgeredet, seine »große Ankündigung« zu machen; sie mochte sich gar nicht ausmalen, wie viel schlimmer alles ausgesehen hätte, hätte er allen vom Futter für ihr Vieh erzählt, und dieses Futter wäre dann nicht eingetroffen.
Während Estella über die weite Landschaft blickte, in der die Stadt Kangaroo Crossing verschwindend klein wirkte, vermeinte sie plötzlich eine Bewegung wahrzunehmen. Zuerst dachte sie an ein Känguru oder ein Emu, dann aber sah sie, dass es zwei Reiter waren, die aus dem Nichts aufzutauchen schienen. Sie kamen Seite an Seite auf die Rennbahn zu; es lagen ein seltsamer Ernst und feste Entschlossenheit in jeder ihrer Bewegungen. Estella fragte sich, wer diese Männer sein mochten und was sie um diese späte Stunde an der Rennstrecke wollten.
Als sie sich der Lehmpfanne näherten, erkannte sie im Mondlicht ihre seidenen Jockeywesten, die unterschiedliche Farben hatten, doch die Kappen beschatteten ihre Gesichter. Das eine Pferd war grau, das andere kastanienbraun. Als der Braune unruhig mit dem Kopf schlug, sah Estella die Blesse auf seiner Stirn und erschrak: Es war Stargazer! Plötzlich fiel ihr das Bild im Gemischtwarenladen wieder ein, und sie erinnerte sich daran, dass Stargazers Farben Schwarz und Gold waren. Außerdem hatte sie Marty und Murphy über Plumbago reden hören, und einer von ihnen hatte erwähnt, dass der Hengst ein Grauschimmel war. Doch warum ritten die beiden Kontrahenten im Dunkeln über die Rennbahn, wenn niemand in der Nähe war?
»Sie werden doch wohl nicht ...«, flüsterte Estella. »Das können sie nicht tun ...!«
Sie traute ihren Augen nicht, doch es war nur zu offensichtlich, was die beiden Reiter vorhatten: Sie wollten gegeneinander antreten!
Estella saß auf einer der höchsten Dünen in der Nähe der Bahnkurve und hatte im hellen Mondlicht einen guten Blick in beide Richtungen. In einiger Entfernung sah sie die Startlinie; sie konnte die durch weiße Pfosten gekennzeichnete Ziellinie gerade eben noch ausmachen. Atemlos beobachtete sie, wie die Pferde sich im Schritt langsam auf die Startlinie zubewegten, was ihr Zeit genug gab, sich Gedanken um Stargazers Verfassung zu machen. Es war sicher nicht gut, ihn nach allem, was er durchgemacht hatte, dieses Rennen laufen zu lassen. Zwar schien er sich wohl zu fühlen, und das Mittel, das Mai ihm gegeben hatte, zeigte keinerlei Nachwirkungen, doch Estella bezweifelte, dass er in Bestform war. Hätte Marty sie gefragt, hätte sie ihm geraten, Stargazer noch mindestens einen Tag Ruhe zu gönnen. Sie hätte gern nach ihm gerufen, um es ihm zu sagen, doch sie wusste, dass es umsonst gewesen wäre. Nichts würde ihn aufhalten, sein männlicher Stolz zwang ihn dazu, sich nicht geschlagen zu geben. Es gab Dinge, die ein Mann tun musste – und dazu gehörte für Marty, Clem Musgrove und dessen Anhänger zum
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