Ein Hund mit Charakter
ihm in den Weg stellt, zu erklimmen, muß in jedes Kellerfenster hinunterbellen, Schnee lecken und sich – nach Art der kleinen Mädchen – gelegentlich aufführen, als ob er schon erwachsen wäre, ein Hund, der seine Pflichten auf der Gasse ganz genau kennt. Doch dieser triebhafte Instinkt ist noch nicht heftig genug, um ihn auf der Straße wirklich zu ernsthafter Pflichterfüllung zu nötigen. Da mag Theres in aller Morgenfrühe halbstundenlang mit ihm bei Schneefall draußen herumstehen, die Dame ihn über Stunden am Rand der Generalswiese oder auf der Bastei-Promenade hinter sich herschleifen, alles Zureden wie auch das Vorbild anderer erwachsener Hunde sind umsonst: Er ist peinlich auf die Sauberkeit von Gassen und Wegen bedacht. Erst nach Rückkehr in die Wohnung – und zwar genau auf der Schwelle – gibt er dem dringenden Bedürfnis der Natur nach. Belehrende Ermahnungen, Strafe, das beispielhafte Verhalten älterer Hunde prallen an ihm ab.
Eigentlich ängstigt er sich auch noch ein bißchen vor dem Spazierengehen, ermüdet schnell, zittert vor Spatzen und Raben, schreckt ohne jeden Anlaß zusammen, bockt und rührt sich oft nicht mehr vom Fleck, so daß die Dame ihn am Ende hochnehmen muß. So sieht er dann auf dem Arm der Dame wie ein strubbeliger Muff im Schneegestöber aus. Schwer ist er noch nicht; er bettelt sich wie ein quengelndes Kind hinauf, vergräbt sein Schnäuzchen im Pelzkragen der Dame und erwartet, daß sie ihn nach Hause trägt. Die Leine will er in der Wohnung noch immer nicht. Es dauert Wochen, bis er sich zumindest auf der Straße gefallen läßt, so an der Leine zu gehen, daß man ihn nicht hinter sich herschleifen muß. Trotzdem sieht es oft so aus, als hätte die Dame das Tier irgendwo mitgenommen und es folge der Fremden nur widerstrebend und unter qualvollem Protest an der Leine. Zwei Hundeleinen aus Leder hat er schon in aller Stille zerbissen, nachts im Dunkeln ist ihm das gelungen; und die Dame sah sich genötigt, eine Kette für ihn anzuschaffen, doch ihr Anblick und Geklirre lösen bei ihm ein Gefühl abgrundtiefer Niedergeschlagenheit aus.
»Spazieren«, ruft die Dame, und mit freudigen Purzelbäumen kullert Tschutora zur Eingangstür. Da hält er inne, sobald er die vom Haken herunterbaumelnde Kette sieht, knurrt böse, fletscht die Milchzähnchen, bettelt mit erhobenen Pfötchen. Solcher Widerwille aus tiefster Seele ist durch Gewöhnung und Erfahrung nicht wegzubekommen: Er wird immer wieder, bis ans Ende seines Lebens, in Panik verfallen, wenn er an die Kette genommen werden soll, wird sich noch widersetzen, wenn er längst erwachsen ist, immer und unaufhörlich; jetzt zeigt er nur die rosa Lefzen, später entblößt er seine furchterregenden Zähne, die knurrenden und röchelnden Laute scheinen direkt aus seinem Bauch zu kommen, der ganze Hund zittert, er scharrt und jault aufgeregt, bis die Kette am Halsband festgemacht ist. Danach wird er ruhig; doch das ist der Gleichmut der Verzweiflung. Mit hängenden Ohren, den Schwanz zwischen den Beinen, so zottelt er der Dame hinterher, den Kopf gesenkt, bis ihn die ablenkenden Eindrücke der Straße die Demütigung vergessen lassen. Immer, auch in der Wohnung, empfindet er es als besondere Strafverschärfung, wenn man ihm die Kette ans Halsband hängt. Er braucht dann gar nicht mehr festgemacht zu werden, schleppt sich tieftraurig durch die Räume und zieht die Sklavenkette hinter sich her. »Jetzt erinnert er mich«, pflegt die Dame zu sagen, »an Michael Tantschitsch selig, als man ihn nach dem Vergehen gegen das Pressegesetz in Ketten gelegt hatte.«
Einen Zeitbegriff hat Tschutora natürlich noch nicht. So wie ihm die räumliche Vorstellung fehlt, weiß er auch nicht, wann er schlafen soll, welcher Tagesabschnitt für die Arbeit und welcher zum Spielen und für andere Vergnügungen vorgesehen ist. Gegen Mitternacht rappelt er sich auf, kriecht verschlafen hinter dem Ofen hervor, streckt sich und nimmt vor dem Schreibtisch des Herrn Aufstellung, der inzwischen glücklich zu seiner disziplinierten Tages- und Nachteinteilung zurückgefunden hat; dort bekundet er unmißverständlich, daß er jetzt zum Spielen bereit wäre. »Das ist jetzt nicht die Zeit dafür«, gibt ihm der Herr mit sonorer Stimme zu verstehen. Tschutora setzt sich vor den Schreibtisch und wartet. Die dunklen, glänzenden Knopfaugen folgen beharrlich der Hand des Herrn, die auf dem weißen Papierbogen von einem Rand zum andern wandert. Er wartet, bleibt
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