Ein Hund mit Charakter
sitzen, gähnt dann und wann, und da er kein Zeitgefühl hat, harrt er so bis zum Morgengrauen aus. Zwischendurch überwältigt ihn der Schlaf, und er legt den Kopf auf die Pfötchen, schlummert weg, aber sein Schlaf ist nur ganz leicht, bei jeder Bewegung, beim Anreißen eines Streichholzes hebt er den Kopf. Doch manchmal fällt Tschutora auch morgens um zehn in einen Tiefschlaf, aus dem ihn das wildeste Telephonklingeln nicht wecken kann; ein anderes Mal tippt er früh um vier diskret und leise mit der Schnauze an die Tür zum Schlafzimmer der Dame, öffnet sie, legt sich im Dunkeln still vors Bett und wartet.
Tschutora weiß noch nicht, wie lang eine Minute oder ein Tag ist, ihm fehlt auch das Gefühl dafür, was mehrere Tage sind. Geht ein Hausgenosse fort und bleibt eine halbe Stunde weg, so ist er bei dessen Rückkehr genauso glücklich, empfängt ihn mit ebenso wilden Sprüngen, strahlenden Augen und sich freudig überschlagendem Bellen, als wäre sie oder er nach tagelanger Abwesenheit heimgekehrt. Auch wenn Theres nur für eine Minute aus dem Zimmer geht, wird sie anschließend so begeistert begrüßt, als käme sie von einer langen Reise zurück. Noch wird er nur von seinem »Instinkt« durch die Gefahren und Möglichkeiten der vier Dimensionen geleitet, diese in der Zeit sich vollziehende mehrdimensionale Welt ist für ihn noch immer nur irgendein wohliges Durcheinander, Wissen und Erfahrung konnten die angenehm schweifende Ziellosigkeit, in der er lebt, noch nicht zerstreuen. Er kommt ganz gut ohne Zeitgefühl aus: Seine Herrschaften beneiden ihn um die uneingeschränkte Freiheit, in der er sich weder durch Mutmaßungen noch durch Vorurteile stören läßt. Er lebt ohne Zeit, und auch die Gesetze des Raums sind ihm gleichgültig.
Was für eine wilde, unbändige Freude, wenn einer der Hausleute heimkommt! Es hat noch nicht geläutet, und auch Schritte sind auf den Stufen nicht zu hören, doch der Winzling Tschutora, der absolut nichts von Zeit, Raum und Entfernungen versteht, ist bereits aus seinem Dösen aufgeschreckt und sitzt in Habachtstellung. Gewiß hat er noch nicht den leisesten Laut vernommen, der Heimkommende ist womöglich erst unten an der Haustür, und es werden noch Minuten vergehen, bevor sich der Schlüssel im Schloß der Wohnungstür dreht. Tschutora aber weiß längst Bescheid und blickt dem Herannahenden mit ungeduldiger Erwartung entgegen. Welche Sinnesorgane sind es, die ihm diese Information übermitteln? Die Augen, die Ohren, die Nase? Unzulängliche Begriffe allesamt. Ein viel feineres Instrumentarium, mit dem Tschutora die Welt wahrnimmt, überprüft und registriert, ist bereits in Funktion, wenn der Ankommende gerade erst in die Gasse einbiegt. Drahtlos, über Frequenzen, die mysteriöser und rätselhafter sind als alles, was der Mensch mit seinen subtilsten Apparaturen zu empfangen vermag, erreicht ihn die Information; Membranen von größerer Schallempfindlichkeit als jedes Mikrophon übermitteln ihm Geräusche, für deren Wahrnehmung der Mensch kein geeignetes Instrument besitzt; hier tritt jenes nicht zu benennende Fluidum, ein Begleitphänomen des organischen Lebens, in Aktion, dessen Schwingungen uns so wenig bekannt sind wie die Beschaffenheit des elektrischen Stromes und das, was wir bequem und vereinfachend »Instinkt« nennen. So ist Tschutora also längst über die Absicht des Heimkehrenden informiert, wenn dieser noch an der nächsten Straßenecke mit einem Nachbarn plaudert. Als Kreatur ist er minderwertiger, kann nicht reden, und seine Bildung läßt zu wünschen übrig, Tschutora ist auch nicht in der Lage, die höheren Weihen der Hundeausbildung zu erlangen, er mag nicht auf zwei Beinen gehen, und es gibt nur wenig Hoffnung, daß er dereinst im Zirkus Karriere macht, wo gelehrte und gelehrige Hunde vor dem faszinierten und applaudierenden Publikum zweibeinig auf dem Seil tanzen und dabei in der Pfote einen roten Sonnenschirm schwenken. Nein, Tschutora ist gedrungen, fast plump, sogar ein bißchen gewöhnlich, ein Bauer, wie Theres zu sagen pflegt. Doch dafür besitzt er andererseits nebensächliche Fähigkeiten, dank derer er zum Beispiel vom Herannahen einer vertrauten Person schon Minuten vor deren Ankunft Kenntnis hat. Er setzt sich in Positur, rennt zur Eingangstür, nimmt hier in der Stadtwohnung, zwischen Mauern und Mobiliar, Witterung auf wie ein Jagdhund in freier Wildbahn, der – wie es in der Jägersprache heißt – »das Wild ausmacht«. Sie muß in
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