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Ein Hund mit Charakter

Ein Hund mit Charakter

Titel: Ein Hund mit Charakter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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weiter. Tschutora mag die Leine nicht, es ist nichts weiter. Und weil das Tier bereits erschöpft und halb besinnungslos auf dem Teppich liegt, schwer atmend, sagt er verstimmt: »Macht ihn los.«
    Sie lassen ihn los, taumelnd trippelt Tschutora in Richtung Badezimmer und hat sich auch schon unter der Wanne verkrochen; bis zum nächsten Morgen ist er von dort durch kein Zureden mehr herauszulocken. Er hat sich versteckt, nur seine dunkelblauen Augen leuchten hervor, und wenn er angesprochen wird, beginnt er leise zu knurren, zieht die Lefzen hoch und fletscht seine kleinen weißen Milchzähne. Tödlich gekränkt und verzweifelt ist er abgezogen.
    »That’s un veritable ungarische Hund«, erklärt die fremde Lady gleichzeitig in drei Sprachen und obendrein noch mit spanischem Akzent, aber auch mit etwas gedämpfter Anerkennung. Ja, ein ungarischer Hund – oder vielleicht auch nur ein Hund mit Charakter, ungarisch oder nicht.
    Sie setzen sich zum Tee und erörtern den Vorfall, doch ihre Betroffenheit schwindet nur ganz allmählich. Als ob sie soeben Augenzeugen einer Naturkatastrophe geworden wären; die Unterhaltung verläuft schleppend und nachdenklich.
    »Also gibt es doch so etwas wie Charakter«, stellt die Dame des Hauses fest.
    »Es gibt das Geschlecht und einen Charakter«, antwortet der Herr energisch und mit nicht zu überhörender Anzüglichkeit. Doch wäre es im höchsten Grade unredlich, trotzig auf der Theorie von der Priorität des Geschlechts zu beharren.
    Ja, es gibt ihn so sehr, daß Billy, dieses angelsächsische Geschöpf, unter dem Eindruck des Erlebten, mitten im Zimmer stehend, vor Aufregung und ohne weiteren Anlaß auf den Teppich kotzt.

Raum und Zeit

    Die Gesetze des Raumes sind ihm unbekannt. Im Alter von acht Wochen traut er sich noch nicht, vom Fauteuil auf den Boden zu springen. Setzt man ihn jedoch oben auf den Schrank, stürzt er sich ohne Zögern in die Tiefe. Das ist für ihn genauso gefährlich, als wenn ein erwachsener Mensch vom vierten Stock herabspringen würde. Es gibt schon ein paar Gegenstände, die er anscheinend grundlos haßt, und manche Schlupfwinkel ziehen ihn merkwürdigerweise magisch an. Den abgewetzten und durchgesessenen Armstuhl etwa, der schon mehreren Generationen der Familie des Herrn gute Dienste geleistet hat, verabscheut er aus tiefster Seele. Sobald man ihn auf das nur fünfzig Zentimeter hohe Möbel setzt, beginnt er leise und angstvoll zu winseln, robbt bis an den Rand des ledernen Sitzes und blickt sehnsüchtig zum Boden hinunter: Doch niemals überwindet er sich, auf den Teppich zu springen, sitzt vielmehr wie angewurzelt, gibt aber durch aufgeregtes Schwanzwedeln, leises Jaulen und Vorstrecken des Pfötchens von seinem Unbehagen Kenntnis und möchte aus dieser Zwangslage befreit werden. Es bleibt ein Rätsel, wieso er sich nicht von dem niedrigen Armstuhl hinunterzuspringen traut, wenn er andererseits locker und sorglos den Salto mortale von der bedrohlichen Höhe eines Schrankes riskiert. Die Dame, die eine Schwäche für rational nicht ohne weiteres beweisbare Hypothesen hat, erklärt das Phänomen damit, daß Tschutora durch einen Bann an den Ledersessel gefesselt sei, und nichts kann sie von dieser Meinung abbringen. Immer wieder setzt sie das Tier probeweise in den Sessel, deutet mit triumphierender Miene, als sei ihr nun endgültig der Beweis für ihre naive Theorie geglückt, auf den unter herzzerreißendem Gewimmer herumkrabbelnden Tschutora und bringt folgende Argumentation vor: In diesem Lehnstuhl müsse einst jemand gesessen haben, der zum »feindlichen Stamm« gehörte; und sie bringt sogar den Begriff des »Totems« ins Spiel, den sie kürzlich in einem Vortrag aufgeschnappt und an dem sie offenbar Gefallen gefunden hat. Würde der Herr die Erklärung nicht auf der Stelle und entschieden ad absurdum führen, wäre es nicht ausgeschlossen, daß sie sich eine ganze Totemtheorie für den Hausgebrauch zurechtlegt. Nichts leichter als das …
    »In diesem Sessel pflegte mein Großvater zu sitzen«, bedeutete ihr der Herr mit fester Stimme, »und der hat bestimmt zu keinerlei feindlichem Stamm gehört.«
    Doch der Hund rührt sich nicht, absolut nichts kann ihn davon abhalten, seinen Abscheu gegenüber diesem Familienmöbel auf jede nur denkbare Weise zum Ausdruck zu bringen, er windet sich, jault und kann sich doch nicht aus seinem Bannkreis befreien. »Vielleicht«, bemerkt die Dame beschwichtigend, »hatte der Großvater einen Geruch an

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