Ein Hund mit Charakter
Welt ausmachen und beleben? Das Volk in diesen Stockwerken wäre nicht weniger interessant, denn auch da leiden ein paar unter zufälligen Assoziationen, unbegründeten Ab- und vorübergehenden Zuneigungen – doch es steht zu befürchten, daß solche Ausführungen uns zu weit von den ursprünglichen Absichten wegführen und sich weitschweifig ins Unendliche ausdehnen könnten, sobald wir Tschutoras Welt verlassen und hinüberirren in die Welt der Menschen. Bleiben wir also kompromißlos in Tschutoras Nähe, begnügen uns bei der Erwähnung seiner »großen Welt« damit, einige Bekannte flüchtig vorzustellen, deren Auftritte Gefühlsaufwallungen und Reizbarkeit in Tschutoras kurzes junges Leben gebracht haben.
Zsombolyas Werkstatt, wo sich die Schattengestalten abgerissener, rußgeschwärzter Lehrbuben den ganzen Tag emsig mit dem Metall, diesem widerspenstigen und tristen Werkstoff, plagen, wo der Meister selbst mit aufgekrempelten Hemdsärmeln über die glühende Esse gebeugt ist, gedrungen, sehnig, mit seinen dichtbehaarten Armen funkensprühendes Eisen bearbeitet, und das mit einer Leidenschaft, als könne er damit gleichsam allen unterdrückten Unmut aus sich heraushämmern, den er aus unbekannter Ursache gegen Telkes, den Hauseigentümer, verschiedene Mitbewohner und die ganze Welt in seinem Busen nährt – all dies mag Tschutora wie eine unterirdische mythische Szenerie erscheinen, in der Zsombolya als Vulcanus agiert, eine Art niedere Gottheit, denn der junge Hund kann diese berufsbedingten Gemütsausbrüche stundenlang verfolgen, mit gesträubtem Fell, bebend und stumm vor Entsetzen; die sprühenden Funken des glühenden Eisenteils spiegeln sich in Tschutoras dunkelblau strahlenden Augen, er wagt nicht einmal zu kläffen, trotz des Schauders, der ihn in dieser dunklen Unterwelt erfaßt und immer wieder anzieht. Wenn er ausgerissen ist, sucht man ihn zur Essenszeit am besten hier. Zu Zsombolya, der auf seine unbeholfene, derbe Art zärtlich zu dem Tier ist und gern mit ihm spricht, hat er ein freundschaftliches Verhältnis, Tschutora hört sich ruhig an, was der fahrige Meister alles hervorzubringen hat, so seltsam und an den Haaren herbeigezerrt es auch klingen mag – einerseits, weil er jedes Wort versteht, und auch, weil der Tonfall, die Musik hinter dem Sinn des Textes ihm vielleicht mehr verrät als den Menschen. Möglicherweise hat Zsombolya, so wie Theres und viele andere, auch niemanden, mit dem er wie zu Tschutora ohne Vorbehalt und aufrichtig reden kann. Und irgend jemanden braucht der Mensch, dem er sich anvertrauen kann.
Im ersten Stockwerk am Ende des Flurs wohnen »die Achtundvierziger«. Theres pflegt sie verallgemeinernd und abschätzig so zu nennen, wenn sie von Tschutoras Feinden spricht – der Herr begreift lange Zeit gar nicht, wer damit gemeint ist, und hat die ziemlich vage Vorstellung von einer altehrwürdigen ungarischen Familie, denkt an einen Tafelrichter oder Präsidenten des Vormundschaftsgerichts, der inmitten der wechselnden politischen Zeitläufte ruhigen Blickes und reinen Herzens, vermutlich auch bärtigen Antlitzes, an den Idealen der bewegenden Ereignisse von 1848 festgehalten hat; der, wenn er an die Presse denkt, sich auf die damals geforderten Freiheiten besinnt und der am 15. März, dem Nationalfeiertag, im festlichen Gehrock Blumen zu den verfallenen Gräbern bringt, in denen die unbekannten Helden des Achtundvierziger-Freiheitskampfes ruhen. Derartiges kommt ihm in den Sinn, wenn sich Theres wieder einmal über die Achtundvierziger ausläßt. Die Wirklichkeit sieht, wie üblich, auch in diesem Fall ganz anders aus. Eines Tages sieht sich der Herr gezwungen, mit den Achtundvierzigern in Gestalt von zwei ältlichen Damen Bekanntschaft zu machen, da Tschutora nach dem Rock der Jüngeren geschnappt hat. Vielleicht war es die eigenwillige und wirklich aus der Mitte des letzten Jahrhunderts stammende Bekleidung der Damen, vielleicht ihr altväterliches Ungarisch, aber sicher auch das ungewöhnliche, in unserer Welt kaum noch anzutreffende sittsame Mutter-Tochter-Verhältnis – das gar nicht in ein so dilettantisches, sondern vielmehr in ein echtes Lesebuch paßt –, was Theres zu der Bezeichnung »Achtundvierziger« veranlaßt hat. Wie auch immer, Tatsache ist, daß unter allen Hausbewohnern diese beiden einander zärtlich stützenden Damen mit Schleier am Hut unter Tschutora am meisten zu leiden haben. Der Hund weiß das und nutzt ihre unbegründete, einfältige
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