Ein Hund mit Charakter
Angst schnöde aus; er pflegt den Damen mit der Unverfrorenheit eines Halbwüchsigen und der ordinären Rüpelhaftigkeit eines Straßenbengels nachzustellen, steht lauernd in der Diele, um die Schritte der hasenherzigen Nachbarinnen auf keinen Fall zu verpassen, und er wirft sich mit grimmigem Belfern gegen das vergitterte Fenster der Vorzimmertür, wenn die altersschwache Mutter mit ihrer dahinwelkenden Tochter vorbeigeht. Die gebrechlichen Damen beschimpfen Tschutora und auch seinen Herrn ihrerseits zischend und mit schwachherziger Kurzatmigkeit auf üble Weise und benutzen oft den Dienstbotenaufgang, um dem Zorn dieses Höllenhundes zu entgehen; in der ganzen Christinenstadt verbreiten sie mit altmodischen, vornehm verpackten Schmähreden die häßlichsten Niederträchtigkeiten über den Köter und die dazugehörige Familie. »Er soll ja auch Freimaurer sein!« hört Theres sie eines Morgens, als die Damen Tschutora auf seinem Vormittagsspaziergang begegnen, dem allseits bekannten, wohl einem jüngeren Jahrgang angehörenden Ordensfräulein aus dem Nachbarhaus zuflüstern. Wer wohl gemeint ist, Herr oder Hund? Diese Achtundvierziger verbreiten ihre Beschwerden in flötendem, sirupsüßem Ton im ganzen Christinenviertel, und Theres äußert sich vermutlich aus Klassenhaß ebenfalls mit feindseliger Erregung über sie. Tschutora seinerseits macht Jagd auf die Achtundvierziger, weil er seine Überlegenheit spürt, den nicht gerade vornehmen Dünkel der unbändigen Jugend gegenüber dieser leichtgewichtigen weiblichen Hinfälligkeit.
Die Damen lassen sich durch ihre Furcht gelegentlich zu ungerechten Anschuldigungen hinreißen, und so sieht sich der Herr genötigt, eines Nachmittags hinten am Ende des Korridors, in der Zweizimmerwohnung, wo Mutter und Tochter inmitten von Einkochgläsern, Mausefallen, in Häkelrahmen steckenden Familienbildern und polierten Möbeln mit Apfelduft leben, seine Aufwartung zu machen. Sie existieren hier in einer Weltabgewandtheit, als grübelten sie tatsächlich noch heute einzig über die Ursachen des fehlgeschlagenen Freiheitskampfes von 1848 nach; hastig, von kurzen, schrillen Aufschreien begleitet, hantieren sie mit allerlei Lappen und Leinenzeug, als zupften sie heimlich Scharpie für die Verwundeten der historischen Schlacht von Kápolna. Der Besuch des Herrn steigert ihre Erregung bis zur Kopflosigkeit, sie springen auf, setzen sich wieder, bieten sich gegenseitig und auch dem Gast einen Sitzplatz an, fuchteln beidhändig in der Luft, als gelte es, eine Erscheinung zu verscheuchen, sie lachen nervös, kreischen und sagen wirres Zeug wie: »Sie haben Darvay nicht gekannt!« – »Nein, wie hätte er auch.« – »Ach, lassen wir das.« – »Den Ofen hat man nicht ausgetauscht, dafür gibt es Zeugen.« Als hätte jemand eine Bombe durchs Fenster geschleudert, so springen sie umher, schwatzen atemlos, dann wieder zurückhaltend, auch vorwurfsvoll, überschwenglich und maßlos. Der Herr tritt verwirrt und unverrichteter Dinge den Rückzug an. Die Damen verfolgen ihn bis zur Tür, lassen ihn gar nicht zu Wort kommen, flattern mit ihren spitzenarmigen Flügeln und trillern wie tollgewordene Kanarienvögel. Der Herr wischt sich den Schweiß von der Stirn, sobald er draußen ist; er weiß selbst nicht mehr, was ihn eigentlich hergeführt hat, langsam dämmert ihm, daß er in Tschutoras Angelegenheit Frieden stiften wollte. Die Achtundvierziger! Ja, sind in diesem Haus denn alle verrückt? … sinnt er kopfschüttelnd, während er auf dem langen Korridor in seine Wohnung zurückkehrt. Oder vielleicht nicht nur in diesem Haus? Könnte es sein, daß in einer überreif gewordenen Zivilisation, die sich nur noch um den Preis der Verdrängung aufrechterhalten läßt, früher oder später alle irgendwie …? Er wagt es nicht, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Und da wäre dann noch der Briefträger, den Tschutora so ganz unauffällig und ohne vorherige Ankündigung in den Knöchel gebissen hat – dieser gutmütige, beleibte Mensch, der durch den hinterlistigen Überfall so verwirrt war, daß er vergaß, Schadenersatz zu fordern! Und wenn wir nicht befürchten müßten, die Geduld des Lesers über Gebühr strapaziert und uns auf verbotenes Terrain verirrt zu haben, könnten wir Tschutora auch einmal in die wirkliche große Welt folgen, zum Beispiel in die Geschäfte entlang der Attilastraße, in die Theres auf ihren Einkaufsrunden mit dem Hund einzukehren pflegt, zum Kaufmann mit dem
Weitere Kostenlose Bücher