Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
heute
richtig getunnelt, damit ich das Ganze lebend überstehe.“
„Ich habe doch gesagt, dass ich bei deiner ersten Führung
dabei sein werde. Du warst prima!“
„Wirklich? Hast du auch diesen Arsch von Professor mit
seinen ganzen Detailfragen gehört?“
„Ach, ich finde, du hast cool pariert. Besonders gut haben
mir die Storys vom Räuber Hölzerlips und dem Binsebub gefallen. Vielleicht hast
du Lust auf eine Privatführung. Mein Vater wird sechzig, da könnten wir ihn mit
so was überraschen und du würdest einen fetten Stundenlohn kassieren.“
Er schien tatsächlich von ihrer wackeligen Darbietung
angetan zu sein.
Sie lehnte sich kurz an ihn. „Danke.“
Er stand auf. „Wir sehen uns später.“
Mit schlechtem Gewissen schaute sie ihm nach. Sie hatte sich
immer noch nicht getraut, ihm von ihrer Verlobung mit Josue und dem baldigen
Auszug zu erzählen.
16
Begegnung mit einer Dame, Hamburg mit
Familienanschluss und das Schreikind
Emily betrat zum zweiten Mal die Villa am
Michelsberg, in dem Clara und ihre Großmutter wohnten. Sie dachte an die
Schlossbeleuchtung zurück. Emily überreichte Claras Großmutter den kleinen
Blumenstrauß aus bunten Astern, den sie auf dem Markt gekauft hatte. Dann
wandte sie sich der kleinen, zusammengesunkenen Person im Rollstuhl zu. Sie
erschrak richtig beim ersten Anblick. Die Dame wirkte wie ein zartes,
verwundetes Vögelchen, das erschöpft Zwischenhalt im Rollstuhl suchte, auf dem
langen Weg nach Hause. Emily gab ihr die Hand, die sie allerdings nur schwer
und langsam bewegen konnte.
„Guten Tag, Frau Vogel, ich bin Emily Neumann. Clara hat mir
von Ihnen erzählt, dass Sie jemanden suchen, der mit Ihnen die Stadt unsicher
macht.“ Ihr Ton klang selbst in ihren eigenen Ohren viel zu munter und
aufgesetzt.
„Hallo, Frau Neumann.“ Die Dame sprach mit einer erstaunlich
klaren und volltönenden Stimme. „Ja, wie sie sehen, bin ich auf Hilfe
angewiesen. Aber auch in einem kranken Körper kann noch ein neugieriger Geist
stecken.“
Emily war hingerissen von der ausdrucksvollen Stimme und
Mimik der Dame, die sie trotz ihrer Gebrechen ganz lebensfroh und lebendig
wirken ließ. „Wo liegen denn Ihre Interessen, wenn ich fragen darf?“
„Sie dürfen nicht nur, sie sollen das sogar fragen, damit
wir sehen, ob wir auch zusammenpassen. Ich gehe gerne ins Theater, habe dort
auch schon jahrelang ein Wahlabonnement. Derzeit mit dem Opernzelt ist es sogar
etwas einfacher geworden für mich als Rollstuhlfahrerin. Ich lese gerne, kann aber
nur noch schlecht sehen und genieße es inzwischen auch, vorgelesen zu bekommen.
Dann und wann esse ich gerne ein gutes Stück Torte und unterhalte mich mit
lieben Menschen über Gott und die Welt.“ Dabei lächelte sie Claras Großmutter
zu, die sich mit großer Zuneigung zu ihr beugte und ihr den dünnen Arm
tätschelte. „Ansonsten bin ich für Schabernack aller Art zu haben und offen für
Ihre Ideen.“
Emily nickte glücklich. Sie verspürte eine tiefe Freude im
Bauch. Gerne wollte sie auf der Stelle viele Stunden mit dieser lebendigen Dame
verbringen und die Welt neu mit ihr entdecken. „Wissen Sie, das hört sich prima
für mich an. Ich glaube, mir machen die gleichen Dinge Spaß wie Ihnen, ich
nehme mir nur viel zu selten die Zeit dafür.“
„Nun, dann lassen Sie uns das gemeinsam angehen. An welchem
Tag haben Sie denn Zeit?“
„Mein studienfreier Tag im neuen Semester ist der Mittwoch.
Allerdings kann ich oft nicht länger als bis um sechzehn Uhr, da hole ich dann
meine zukünftigen Kinder ab.“
„Ihre zukünftigen Kinder, das hört sich interessant an, aber
davon können Sie mir dann in aller Ruhe berichten. Für mich würde das passen,
denn um die Zeit werde ich meistens müde, so dass Sie mich dann noch ins Bett
verfrachten könnten. Meiner Gesellschafterin könnte ich fünfundzwanzig Euro die
Stunde bezahlen, wäre das für Sie in Ordnung?“
Emily glaubte, sich verhört zu haben, das war mehr als das
Doppelte, das sie im Altenheim verdiente. Sie schaute sich fragend um. Clara
nickte ihr kaum merklich zu. Also sagte sie freudestrahlend: „Das kommt mir
zwar etwas viel vor, aber natürlich wäre das toll für mich.“
„Also, dann abgemacht, wir sehen uns übermorgen, sagen wir
um zehn Uhr bei mir in der Burgstraße.“ Frau Vogel reichte ihr mühsam die
kleine Hand, die angenehm weich und warm in Emilys größerer lag.
Sie spürte den starken
Impuls, diese Frau zu
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