Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
beschützen. Ein wenig war es wie Liebe auf den ersten
Blick. Die Dame lächelte sie warmherzig aus einem Gesicht an, in das sich harte
Zeiten in tiefen Furchen eingegraben hatten, das aber auch sehr würdevoll
wirkte. Den feinen Gesichtsformen nach musste sie einmal sehr attraktiv gewesen
sein. Emily hippelte auf ihrem Stuhl und konnte die innere Erregung, die sie
ergriffen hatte, kaum im Zaum halten.
„Jetzt lasst uns diesen wunderbaren Kuchen verspeisen“,
sagte Claras Großmutter und bediente jeden mit einem großen Stück Zupfkuchen.
Da Emily neben Frieda Vogel saß, half sie ihr ab und zu dezent, den Bissen auf
die Gabel zu bekommen, und sie lächelten sich an, als wären sie schon jetzt ein
eingespieltes Team. Einmal fing sie einen neugierigen Blick von Clara auf, die
Emily ja auch noch nie in dieser Rolle erlebt hatte.
„Bitte erzählen Sie uns doch von Ihrer ersten Stadtführung“,
bat Claras Großmutter wenig später.
Emily bekam rote Ohren und sah Clara an, die unschuldig mit
den Schultern zuckte. „Ich hatte eine Gruppe von etwa zwanzig Personen, einige
sind mir im Laufe der Zeit leider abhandengekommen. Insgesamt bin ich gar nicht
so unzufrieden mit mir gewesen. Wenn man sich ausmalt, was alles schief gehen
kann bei so einer Führung, hat es ganz gut geklappt.“
„Aber?“, fragte Frau Vogel.
„Wenn da nicht dieser eine Professor gewesen wäre, der genau
wusste, wo meine Schwachstellen liegen. Ich kam mir vor wie eine Hochstaplerin.
Ich glaube, er hat mich nur geschont, weil ich ihm zwischendrin gesteckt habe,
dass das meine allererste Stadtführung ist. Er hätte mich sonst vermutlich in
der Luft zerrissen.“
„Herzlichen Glückwunsch“, sagte Claras Großmutter. „Dann
haben Sie nicht nur irgendeine Führung gemeistert, sondern gleich noch eine
unter verschärften Bedingungen.“
„Ich finde Menschen, die sich auf Kosten von anderen
profilieren müssen, wenig beeindruckend, um nicht zu sagen richtig kindisch“,
kommentierte Frau Vogel. Emily warf ihr einen dankbaren Blick zu. „Unter
Professoren findet man dieses Gehabe leider recht oft.“
Emily stach in ihren Kuchen und murmelte: „Danke. Schön,
dass hier alle auf meiner Seite sind.“ Sie fühlte sich in dieser Runde
aufgehoben.
Später ging sie mit Clara in ihr Zimmer. Clara fragte sie
noch auf dem Weg dorthin: „Wie findest du sie?“
„Toll“, antwortete Emily. „Sie gibt mir das Gefühl, dass ich
ganz viel Zeit mir ihr verbringen möchte. Und ich kann es gar nicht glauben,
dass ich darüber hinaus auch noch dafür bezahlt werde.“
„Sie ist wirklich ein Goldschätzchen. Ich verneige mich vor
ihr, wie sie mit ihrer Krankheit und den Prognosen umgeht.“
Emily sah Clara fragend an. „Sie
wird wohl nicht mehr allzu lange zu leben haben“, sagte Clara leise. Emily
merkte, wie ihre Augen feucht wurden.
„Wirklich? Das ist ja so traurig. Ich hätte sie gerne früher
kennengelernt.“
Clara drückte sie. „Schau, sie hat ihr Leben so gelebt, wie
sie es wollte. Ich glaube, sie wird auch in Würde gehen, wenn es so weit ist.“
Emily dachte darüber nach, ob sie es schaffen würde, erneut
einen lieben Menschen durch eine Krankheit zu verlieren. Aber dann fühlte sie
Frieda Vogels Blick auf sich ruhen, so wie vorhin, als sie sich angelächelt
hatten. Und sie wusste, dass sie sich um nichts in der Welt die Chance entgehen
lassen würde, noch einige Zeit mit dieser Dame zu verbringen.
Am Mittwoch stieg sie zappelig vor Erwartungsfreude von
ihrem Fahrrad und suchte das Haus in der Burgstraße. Handschuhsheim erinnerte
sie an ihre Begegnung mit David. Sie wollte ihm auch so gerne von ihrer ersten
Stadtführung erzählen. Wenn sie sich trafen, fühlte es sich schon fast vertraut
an. Aber bisher waren sie noch nicht so weit, dass sie sich regelmäßig
verabredeten. Irgendwie gab es eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen. Emily
vermutete, dass das mit Davids Geheimniskrämerei zusammenhing. Aber sie nahm
sich vor, ihn ganz einfach diese Woche anzurufen. Sie könnten etwas zusammen
trinken gehen, sie hatte richtig Sehnsucht danach, ihn wiederzusehen. Emily
schloss ihr Fahrrad vor einem weißen Mehrfamilienhaus mit liebevoll angelegtem
Staudengarten ab und klingelte bei Vogel. Der Türöffner surrte und sie trat
ein. Der Aufzug war sicher nachträglich eingebaut, wodurch das ehemals
großzügig angelegte Treppenhaus sehr eng geworden war. Sie nahm jeweils zwei
Treppenstufen auf einmal, die Wohnung von Frau Vogel lag
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