Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
unter dem Dach. Sie
klopfte und ein junger Mann öffnete. Sie begrüßten sich mit Handschlag. „Hi.
Ich bin Tobi, Tobi der Zivi. Pardon, alte Angewohnheit, Tobi, der FSJler. Ciao,
Frieda, ich geh dann mal“, sagte er und polterte die Treppe hinunter. Frieda
Vogel rollte mit ihrem elektrischen Rollstuhl heran und gab Emily die Hand.
„Kommen Sie herein. Ein Vorteil meiner Situation ist, dass
ich ständig wechselnden Männerbesuch habe.“
Emily stellte ein Päckchen ostfriesischen Tee und ein kleines
Fläschchen Rum auf den Tisch. „Falls wir nachher auf unsere neue Bekanntschaft
mit einem Tässchen Tee anstoßen wollen.“
Frieda Vogel lächelte. „Woher wussten Sie, dass ich immer
für eine gute Tasse Tee zu haben bin?“
„Das sieht man doch sofort“, behauptete Emily und musterte
die Wohnungseinrichtung. Schon beim Eintreten hatte sie sich am Geruch erfreut,
ein Geruch nach alter Dame, mit einem Hauch Kölnisch Wasser, aber es war auch
noch eine feinere Zitrusnote dabei. Ihr Blick fiel auf einen schwarzen Flügel.
Wie der wohl hier ins Dachgeschoss gebracht worden war?
„Sie spielen Klavier?“ Welch dämliche Frage, rügte sie sich
gleich.
„Tja, ich war viele Jahrzehnte Klavierlehrerin. Dieses
Instrument hat schon so einiges mitgemacht. Schauen Sie hier, die Galerie
meiner Schülerinnen und Schüler.“
Die ganze Wand neben dem Flügel war gepflastert mit kleinen
Bilderrähmchen und Postkarten. „Manche besuchen mich immer noch und spielen mir
gelegentlich etwas vor, das genieße ich dann so richtig. Ich selbst kann seit
zwei Jahren gar nicht mehr spielen. Spielen Sie?“
Emily trat von einem Bein auf das andere. „Ich hatte drei
Jahre Unterricht, wurde aber als nicht besonders talentiert erachtet, worauf
der Unterricht wieder eingestellt wurde. Mein Vater spielt nicht schlecht.“
„Ach, würden Sie mir die Freude machen, mir etwas
vorzuspielen?“
„Das einzige Stück, an das ich mich erinnere, ist der
Flohwalzer.“
„Also dann, der Flohwalzer, ich habe ihn lange nicht mehr gehört.“ Emily begann: Tütelütü-tü, tütelü-tü-tü
... . Frieda Vogel wippte mit und Emily musste sich plötzlich
ausschütten vor Lachen, so grotesk kam ihr die Situation vor. Frau Vogel lachte
mit, bis ihr ebenfalls die Tränen die runzeligen Wangen hinunterliefen. Als sie
beide sich wieder beruhigt hatten, sagte sie: „Also, wenn Sie noch etwas
anderes lernen möchten als den Flohwalzer, können wir das gerne angehen. Auch
wenn ich offiziell keine Schüler mehr habe, macht es mir ab und zu noch Spaß zu
unterrichten.“
„Herzlichen Dank für das Angebot. Vielleicht werde ich drauf
zurückkommen.“ Emily dachte daran, dass sie Josue vielleicht eines Tages mit
einem Stückchen beeindrucken konnte. Ihm hatte sie nie erzählt, dass sie vor
langer Zeit ein wenig Klavier gespielt hatte. Dann erinnerte sie sich aber,
dass sie hier war, um Frieda Vogel in der Verwirklichung ihrer Wünsche zu
unterstützen. Sie drehte sich beherzt auf dem Klavierhocker zu ihr um.
„Auf was hätten Sie denn heute Lust? Das Wetter ist nicht
ganz so toll, aber auch nicht zu schlecht, um hinauszugehen.“
„Ich hätte da schon eine Idee. Mit meinen Zivis bin ich ja
oft in dem kleinen Graham-Park, aber ich würde so gerne mal wieder den
Marktplatz in Neuenheim sehen. Vielleicht könnten wir dort einen Kaffee trinken
gehen. Als junges Mädchen habe ich in Neuenheim gewohnt, wir spielten immer
Seilspringen auf dem Marktplatz. Ich habe ein Auto, das ich leider selbst nicht
mehr fahren kann, aber Sie vermutlich. Oder würden wir den Weg auch zu Fuß
schaffen?“
Emily antwortete: „Kein Problem, das schaffen wir zu Fuß.
Sie sagen mir einfach, welchen Weg Sie nehmen möchten. Wir haben Zeit und
können gerne noch ein paar Umwege einbauen.“
„Oh, ja.“ Frau Vogel rieb sich die Hände, es hörte sich so
an, als würde trockenes Pergament aufeinanderschleifen. „Würden Sie mich vorher
noch zur Toilette begleiten, sie ist vorne rechts neben der Eingangstür.“ Emily
folgte ihr, als sie vorausfuhr. Die Toilette war rollstuhlgerecht ausgebaut,
dennoch war Frau Vogel zu schwach, um sich selbst auf den Sitz zu heben. Emily
half ihr und schloss dann die Tür. Als sie die Spülung hörte, fragte sie: „Kann
ich wieder reinkommen?“
„Ja“, tönte es. Nachdem sie Frau Vogel auf deren Wunsch noch
eine Ausgehwindel angezogen und die Siebensachen zusammengesucht hatte, waren
sie startklar. Emily legte ihr eine Decke über die
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