Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
Fünfzigjähriger, so dass ich seine Tochter sein
könnte.“
„Aber Emily, du stehst gerade am Anfang eines Studiums und
verguckst dich in einen Vater mit Kind. Wie soll das denn praktisch gehen?“
„Praktisch geht das noch gar nicht, weil wir uns noch nicht
kennengelernt haben. Und traust du mir so wenig zu?“.
„Mensch, Emily, du kommst ständig mit neuen Ideen, ich komm
da nicht mehr mit.“
„Besser, als gar keine neuen Ideen zu haben“, parierte Emily
inzwischen richtig sauer und legte auf.
Emily dachte an das verpatzte Gespräch mit Ruth, als sie
sich pünktlich zum Seminar Wissenschaftstheoretische
Grundlagen der Soziologie in der Bergheimer Straße einfand. Es war
doch traurig, dass ihre Freundinnen so weit weg waren, sie fehlten ihr. Außer
Clara und dem sonderbaren Gabriel hatte sie noch keine Kontakte knüpfen können.
Sie versuchte es bei der Studentin neben ihr. „Hallo, warst Du letztes Mal da?
Ich hatte eine ganz dringende Sache zu regeln, dürfte ich eben deine Notizen
überfliegen?“
„Nein, tut mir leid. Wer nicht da war, muss die Sachen halt
mit den Büchern nacharbeiten.“ Zustimmung heischend wandte sie sich an ihre
Sitznachbarin, die sie zu kennen schien. Die beiden sahen sich fast zum
Verwechseln ähnlich. Streng zurückgekämmte Haare, Perlenohrstecker und schicke
Notebooks vor sich auf dem Pult, die sicher Mami und Papi finanziert hatten.
Obwohl Emily wusste, dass sie verloren hatte, versuchte sie es nochmal.
„Manchmal hilft es aber wirklich, wenn man sich die
Mitschrift anschauen darf, ich sauge dir ja nicht die Buchstaben vom Bildschirm
oder so.“
„Dann komm halt das nächste Mal selbst“, sagte die
rosabebluste Kuh schnippisch. Emily wandte sich wütend ab und blickte sich um.
Hinter ihr saß wieder die junge Mutter, diesmal ohne Baby. Sie hatte das
Gespräch wohl mitbekommen.
„Ich kann auch manchmal nicht kommen, weil Philipp krank ist,
und finde niemanden, der mir seine Notizen zeigen würde.“
„Du kannst mich gerne ansprechen. Das ist doch
selbstverständlich“, erwiderte Emily freundlich. „Ich bin Emily und du?“ „Ich
heiße Franka, freut mich.“
„Und wo ist Philipp heute?“
„Normalerweise ist er in der Krippe, nur wenn er beim
Abgeben zu stark weint, nehme ich ihn ausnahmsweise mit in die Vorlesung. Ich
bring das dann auch nicht über’s Herz, er ist ja noch so klein, erst fünf
Monate.“
Herr Monte betrat den Raum. Schlagartig wurden das Geraschel
und die Gespräche eingestellt. Er strahlte Autorität aus, nicht nur aufgrund seiner wohlgepflegten
Erscheinung und Leibes fülle.
„Wer fasst zusammen, was wir letztes Mal über das
induktivistische Wissenschaftsbild erarbeitet hatten?“ Die Hände der beiden
Damen links von ihr schossen in die Luft. Sie hätten auch im BDM eine gute
Figur gemacht. „Frau Wieznowski?“ Ihre Nachbarin war sogar namentlich bekannt,
welche Ehre.
„Wir hatten herausgefunden, dass Experimente und
Beobachtungen unabhängig von einem vorgefassten Weltbild sein sollen und dass
wissenschaftliche Theorien nach einem strengen Verfahren aus der Erfahrung,
also aus Beobachtung und Experiment, abgeleitet werden, wobei die Erfahrungen
damals meist auf Sinneswahrnehmungen beruhten.“
„Sehr schön, danke. Aber was hat das nun mit den
deduktiv-nomologischen Erklärungen zu tun?“ Aha, eine Transferfrage. Die Damen
meldeten sich nicht mehr, aber schließlich hatten sie für heute ja auch schon
genug Engagement gezeigt. Franka machte einen Antwortversuch. „Auf dem Weg der
Induktion werden möglichst allgemeine Theorien und Gesetze abgeleitet. Nur so
ist es dann möglich, deduktive Vorhersagen zu treffen.“
„Gar nicht schlecht. Der genaueren Beantwortung dieser Frage
werden wir heute in Gruppen nachgehen. Ich habe Ihnen verschiedene Texte
mitgebracht, bitte setzen Sie sich in Vierergruppen zusammen und holen Sie sich
dann jeweils einen der Teststapel hier vorne ab. Jede Gruppe präsentiert drei
Thesen zur Beantwortung der Leitfrage in genau fünfundvierzig Minuten. Viel
Erfolg.“
Emily sah sich suchend um. Die beiden Zuckerpüppchen waren
bereits mit anderen Damen zu einer Gruppe vereint. Franka hinter ihr hatte zwei
junge Kerle akquiriert und fragte Emily, ob sie mit dazukommen wolle. Der eine
picklige junge Mann schien gerade dem Stimmbruch entronnen. Emily hatte gehört,
dass aufgrund der verkürzten Gymnasialzeit nun selbst unter Achtzehnjährige
studieren konnten, vielleicht war das eines der seltenen
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