Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
ein, das Publikum spendete
Vorschussapplaus. Sie verrenkte den Hals, ob sie ihn sehen konnte. Nicht, dass
er heute krank war, nicht auszudenken! Nein, ihr Herz klopfte gegen den Brustkorb
wie ein Tiger, der immer wieder gegen die Stäbe seines Käfigs sprang. Da, er
setzte sich gerade, zog sein Jackett zurecht, griff mit einem eleganten Schwung
nach seinem Bogen und fidelte ebenso wie die anderen wild auf seinem Instrument
herum. Früher, als ihr Vater sie ab und zu in Konzerte mitgenommen hatte, kam
ihr dieses Stimmen vor einem Konzert immer völlig absurd vor. Erst die größten
Missklänge und dann das gemeinsame harmonische Zusammenspiel, als müsse man
zuerst die Ohren des Publikums durchputzen. Plötzlich klatschten alle. Der
junge Dirigent mit perfekt sitzender Frisur positionierte sich und hob seinen
Taktstock. Alle Augen aus dem Orchester richteten sich in einem Moment
atemloser Spannung auf ihn und die Musik hob an.
Emily ließ den Cellisten nicht aus den Augen. Zwischendrin
hatte sie das Gefühl, dass sie sich zum Blinzeln zwingen musste, so trocken
waren ihre Augen vor lauter Anstrengung. Er saß in der zweiten Reihe des
Orchesters. Schon immer war sie fasziniert gewesen vom gemeinsamen Auf- und Ab
der Bögen, von den Bewegungen, die wie Wellen das Orchester durchbrandeten. Und
er mittendrin, seine glänzenden Locken fielen ihm gelegentlich ins Gesicht, und
da er keine Hand frei hatte, warf er sie anmutig nach hinten. Sie sah sich verstohlen
um, sicher waren auch noch andere Frauen hier, die ihn beobachteten, er war
einfach zu schön, um wahr zu sein! Natürlich, drei Sitze neben ihr saß schon
eine, die auch für keinen anderen Augen zu haben schien. Eifersucht flammte in
ihr auf. Innerlich fuhr sie ihre Krallen aus und kratzte der Nebenbuhlerin die
Augen aus. Ich hab ihn zuerst gefunden, schrie sie. Er gehört mir!
Die Musik war eigenartig, manchmal konnte sie richtig
mitgehen, dann widerstrebte sie ihr wieder. Vielleicht wurde sie deswegen so
kratzbürstig. Sie wandte sich ihm erneut zu, um nur ja keine Sekunde seiner
fließenden Bewegungen zu verpassen. Wie er sein Instrument mit dem Bogen sanft
streichelte und dann wieder voller Kraft bespielte. Langsam glitt sie in einen
Dämmerzustand, getragen von der Musik und von einer unbeschreiblichen
Sehnsucht. Jetzt waren sie allein, allein auf einer weiten Blumenwiese. Er
spielte weiter, nur für sie, und sah sie dabei liebevoll an. Sie saß ganz nah,
fast zu seinen Füßen, und hielt ebenfalls seinen Blick fest. Alles verschmolz,
die schneebedeckten Berge, die wunderschöne Musik, es erklang weiterhin das
Orchester, aber die Musik war melodischer geworden. Sie roch den Duft, der aus
der sonnendurchwärmten Bergwiese aufstieg. Dann glitt sie langsam nach hinten
und ließ sich tragen von der beständigen Erde. Sie hörte, wie er sein Cello
behutsam ablegte und sich neben sie niederkniete. Er strich ihr sanft die Haare
aus der Stirn. Sie hielt die Augen geschlossen, um besser spüren zu können.
Dann begann er sie zu küssen, so zart, ihre Stirn, die Wangen, ihre Augen und
Mundwinkel. Sie erschauerte und suchte seinen Mund mit ihrem Mund. Während sie
in einem vollkommenen Kuss versanken, fühlte sie sich wunderbar aufgehoben in
seinen warmen, vollen Lippen, die auch im Küssen eine eigene Sprache sprachen.
„Josue“, flüsterte sie und der Name kam ganz selbstverständlich über ihre
Lippen.
Das Geräusch starken Regens weckte sie aus ihrem Tagtraum.
Sie öffnete die Augen und war umgeben von Applaus. Die Musiker standen. Sie sah
zu ihm, der sie eben noch so leidenschaftlich geküsst hatte, und seufzte. Da
stand er wie ein junger Gott neben seinem Instrument, das er lässig am Hals
hielt, und ließ seinen Blick über das Publikum schweifen. Das Licht im Saal war
angegangen und Emily wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass er sie sah
oder nicht.
Sie ließ sich mit den anderen Besuchern durch die großen
Flügeltüren in die Vorhalle treiben. Pausen fühlten sich komisch an, wenn man
alleine im Konzert war. So ging sie auf die Damentoilette, die natürlich
hoffnungslos überfüllt war. Sie schaute ihr erhitztes Gesicht im Spiegel an und
kam nicht umhin zu sehen, dass sie gut aussah. Sie hatte ihr schwarzes Kleid
an, das mit seinem Faltenwurf sanft ihre Figur umschmeichelte. Auch der dunkle
Lippenstift stand ihr gut. Sie wusch sich nur die Hände, weil sie keine Lust
hatte, so lange anzustehen, und trat wieder hinaus. In dem Moment stand er
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