Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
vor
ihr, vermutlich auf dem Weg zur Herrentoilette. Beide erstarrten für einen
kurzen Augenblick. Emily brachte ein kleines, scheues Lächeln zustande, ehe sie
wieder Richtung Saal ging. Aber sie spürte seinen Blick auf ihrer Figur und
bemühte sich, wie ein Model zu laufen, so wie sie es als Teenager stundenlang
mit ihren Freundinnen geübt hatte, nur um sich danach vor Lachen zu kugeln.
Wenn du wüsstest, dachte sie, was ich alles schon mit dir erlebt habe. Und sie
jauchzte innerlich. Er hatte sie eindeutig erkannt und als Frau wahrgenommen,
das war doch schon ein Riesenschritt in die richtige Richtung. Den Rest würde
sie auch noch hinkriegen und im Geist steckte sie Ruth die Zunge heraus. Meine
Liebe, du wirst schon sehen, wozu deine Freundin in der Lage ist.
Das Konzert ging weiter,
diesmal mit einem Cellokonzert von Edward Elgar. Leider spielte nicht Josue,
sondern die erste Cellistin, hieß das so? Sie war eine attraktive, schlanke,
natürlich langhaarige Brünette, die ganz mit ihrem Instrument eins wurde und
selbst die schwierigsten Passagen mit so federnder Leichtigkeit nahm, dass
Emily die Augen nicht von ihr lassen konnte. Sie sah ein wenig aus wie die
junge Jaqueline du Pré (jawohl, sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht). Als sie
endete, herrschte ein Moment gebanntes Schweigen, dann brandete der Applaus
erneut los. Auch die anderen Orchestermitglieder klatschten leidenschaftlich.
Josue strahlte, das konnte sie ganz deutlich sehen.
Clara, die sie nun öfter
vor oder nach einer gemeinsamen Veranstaltung auf einen Kaffee traf, lud sie
zur Schlossbeleuchtung ein. Die Schlossbeleuchtung schien ein aufwändiges Event
in Heidelberg zu sein. Schon am frühen Nachmittag wurden die Straßen
beiderseits des Neckars gesperrt, Ortsfremde fluchten vermutlich, wenn sie
nicht die Schleichwege um die Stadt herum kannten. Emily lief über das Wehr und
erinnerte sich lächelnd, wie sie den letzten Brief von Klaus hier versenkt
hatte. Klaus, wie viel Jahrzehnte war das jetzt her? Sie war mit einem Kuchen
und einer Flasche Wein bepackt und erklomm auf der anderen Seite die Wehrgasse
zum Hölderlinweg, um zum Haus von Claras Großmutter zu gelangen. Sie hüpfte ein
bisschen trotz der steilen Straße und fragte sich, was Claras Großmutter wohl
für ein Mensch war. Clara hatte nur kurz erzählt, dass sie seit Beginn des
Studiums bei ihr wohnte, und da Clara einige Studienumwege genommen hatte,
waren das wohl schon an die vier Jahre. „Und wir vertragen uns immer noch“,
hatte sie lächelnd hinzugefügt.
Während Emily über das Wehr auf die andere Neckarseite ging,
musste sie an ihre zweiten Tag damals nach Freds Tod in Heidelberg denken.
Auf Anraten ihrer gütig dreinblickenden Pensionswirtin hatte
sie eine Fahrt mit der weißen Neckarflotte unternommen. Sie erstand ein Ticket
für eine Hin- und Rückfahrt nach Hirschhorn, das neckaraufwärts lag, und machte
es sich auf dem Vorderdeck bequem. Hier war der Dieselgeruch auszuhalten. In
ihrer Nähe ließ sich ein Paar nieder. Sie hing an seinen Lippen, quietschte
jedes Mal laut und begeistert, wenn er irgendetwas erzählte, um ihm dann ihr
gespitztes Mündchen zum Kuss darzubieten. Er lehnte sich zurück und ein
königliches Lächeln umspielte sein Gesicht.
Prost Mahlzeit, dachte Emily, das halte ich keine drei
Stunden durch, und suchte sich einen Platz einige Sitzreihen vor den beiden.
Das Boot tuckerte in die Flussmitte, linkerhand zog ein anscheinend solarbetriebenes
Boot vorbei, ob das wohl auch im Winter fahren konnte, fragte sie sich, während
ihr Blick über die Villen am Hang glitt? Mit Klaus hatte sie sich in jeder
neuen Stadt das schönste Haus ausgesucht, das sie gemeinsam beziehen würden,
jetzt musste sie das wohl alleine tun. Aber in Heidelberg war die Auswahl so
groß, dass sie sich definitiv noch nicht heute entscheiden konnte.
Wie konnte es sein, dass sie eine Stadt bereits am zweiten
Tag so gerne mochte, dass sie nun schon nach Gründen für einen erneuten Besuch
suchte? Sicher, Hamburg gefiel ihr. Dort war sie aufgewachsen, zur Schule und
shoppen gegangen und hatte sich gelegentlich auch mal in ein Museum verirrt.
Aber nicht sie hatte sich Hamburg ausgesucht, sondern ihre Eltern. Irgendwie
hatte sie das Gefühl, dass Heidelberg sie angezogen hatte, hätte sie sonst
spontan ihre Mitfahrgelegenheit hier abgebrochen? Können Städte einen rufen?
Emily, jetzt drehst du aber ab, rief sie sich zur Ordnung. Klar, Heidelberg
wartet auf Emily Neumann, 160
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