Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
dass sie sich schon begegnet waren?
Irgendetwas sagte ihr, dass sie lieber als unbeschriebenes Blatt bei ihm
anfangen wollte. Die Situationen waren einfach zu peinlich gewesen, sie konnte
überhaupt nicht einschätzen, was er jetzt für einen eigenartigen Eindruck von
ihr hatte. Und so konnte sie bei einem ersten Treffen immer noch erklären,
warum sie im Brief nichts davon gesagt hatte. Sollte sie nicht auch noch ihr
Alter erwähnen, dass er sie nicht für eine grüne Studentin von einundzwanzig
Jahren hielt?
Uffz, das war alles deutlich anstrengender, als sie es sich
vorgestellt hatte. Schon war eine Woche ihrer Zweimonatswette abgelaufen und
sie brachte nicht mal ein paar anständige Zeilen aufs Papier. Dann erinnerte
sie sich an Claras Angebot. Das wäre so lustig geworden, zusammen mit Clara
einen Brief zu verfassen, aber es schien ihr nicht richtig, dass sie sich diese
schwierige Aufgabe abnehmen ließ.
Vielleicht war sie doch mehr der mündliche Typ. Vielleicht
sollte sie ihn das nächste Mal einfach ansprechen: Hallo, ich bin’s wieder, Emily. Ich habe mich in dich verliebt,
so jetzt ist es raus. Nein, bloß nicht. Danach würde sie sich eine
Tüte überstülpen müssen, um ihre glühenden Ohren zu verbergen, und das würde
die Liste der unvorteilhaften Begegnungen dann noch verlängern. Ein Brief war
eine faire Sache. Er konnte in Ruhe darüber nachdenken, ihre Handschrift
analysieren und sich entweder melden oder es bleiben lassen. Oh nein, an die
Möglichkeit, dass er sich auch nicht zurückmelden könnte, hatte sie ja noch gar
nicht gedacht, das würde sie sofort wieder ausblenden. Ihre Arbeitshypothese
(auch so ein praktisches neues Wort) war jetzt einfach, dass er sich ebenfalls
bei ihr melden würde, dann würde man weitersehen.
Also nochmal von vorne: Darf
ich mich Ihnen vorstellen, mein Name ist Emily und ich habe mich in Sie
verliebt. Seit ich Sie das erste Mal gesehen habe, ist es um mich geschehen.
Sie haben mein Leben durcheinandergewirbelt. Tag und Nacht muss ich an Sie
denken. Ich würde Sie so unglaublich gerne kennenlernen. Ich lebe erst seit
einigen Monaten in Heidelberg und studiere Soziologie und bald Ethnologie. Ich
bin achtundzwanzig Jahre alt. Derzeit genieße ich es, in meiner Freizeit die
Stadt zu erkunden. Meine Freunde sagen, ich bin ein ausgeglichener und
fröhlicher Mensch, mit dem man durch dick und dünn gehen kann. Ja,
das Ende war gut. Schließlich wusste sie, dass eine mögliche Verbindung mit ihm
nicht einfach werden würde. Ich freue
mich auf ein Lebenszeichen von Ihnen. Nein, das musste intensiver
kommen. Ich zähle die Stunden, bis
wir uns persönlich kennenlernen können. Bitte melden Sie sich! Ihre Emily Neumann
Sie las die Zeilen noch einmal durch. War das ein guter
Kurzbrief? Sie wusste nach so vielen Umformulierungen gar nicht mehr, wo ihr
der Kopf stand. Oder waren das die verwirrten Zeilen einer Stalkerin, auf die
kein vernünftiger Mensch antworten würde? Für heute war es jedenfalls genug.
Vielleicht würde sie mit dem Absenden des Briefes warten, bis sie ihn Ruth
nochmal zeigen konnte, wenn diese sie in drei Wochen besuchte. Aber die Zeit
wurde knapp. Sie würde wirklich gerne Annas Trauzeugin werden. Ob Anna sie
trotzdem zur Trauzeugin machen würde? Doch langsam war es eine Frage der Ehre,
dass sie Butter bei die Fische tat.
Jetzt war sie schon wieder viel zu lange am Tisch gesessen
und musste sich dringend die Beine vertreten. Sie schnappte ihr Notizbüchlein,
schlüpfte in ihre Flip-Flops und machte sich auf zu den Schlossterrassen. Dort
könnte sie vielleicht noch einige gute Formulierungen finden.
Die Treppen zum Schloss
fielen ihr nun schon viel leichter als bei ihren ersten Versuchen im Frühling.
Sie ließ die Touristengruppen hinter sich und ging auf den Brunnen zu, auf dem
Vater Rhein gemütlich posierte. Ihr Opa hatte sich immer den Spaß mit ihr
gemacht, sie zu dem Neptunbrunnen am Kö-Graben in Schenefeld zu schicken und
den Meeresgott zu fragen, was er zu Mittag gegessen habe. Als er sie dann
fragte: „Und, was hat er gesagt?“, hatte sie „nichts“ geantwortet und er hatte
sich köstlich amüsiert. Einmal hatte sie „Fischstäbchen mit Kartoffelbrei“
gesagt und da hatte er auch gelacht und sie im Kreis herumgewirbelt.
Während sie die
weitläufigen Rasenflächen betrachtete, konnte sie kaum glauben, dass
hier vor etwa dreihundert Jahren das „achte Weltwunder“, der berühmte
pfälzische Garten, angelegt gewesen war.
Sie
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