Ein Jahr in Andalusien
Paco zurückkommt, hat er ein Buch in der Hand. Mit triumphierendem Blick zeigt er auf den Titel. „Carmen“ steht dort, Autor ist Prosper
Merimée. „Eine Gitana aus Gaucín hat ihn zu dieser Gestalt inspiriert.“ Dann erzählt uns Paco, er sei über die Ankunft der Ausländer sehr froh. „Sie
interessieren sich für das Dorfleben und wollen es erhalten. Der ursprüngliche Charme der Gegend hat sie schließlich hierher geführt. Und sie lassen
eine Menge Geld da.“ Er lädt uns ein, auch bei den Tapas zuzulangen, die er für seine Gäste hergerichtet hat. Bevor wir gehen, beobachten wir noch ein
wenig, wie Paco seinen Freunden aus dem Dorf Diskurse über die Schönheit seiner Heimat hält; währenddessen essen wir belegte Brötchen. Als wir uns
verabschieden, sagt er halb zu uns, halb zu sich selbst: „Wenn die Ausländer nicht wären, würde es unser Dorf vielleicht bald nicht mehr geben.“ Er
greift zu seinem Weinglas und vertieft sich wieder ins Gespräch mit seinem Nachbarn.
Gegen fünf Uhr nachmittags sind Ara und ich wieder in Benalauría. Wir holen Barbara ab und wandern gemeinsam zu Juans Finca, wo wir Juan und Jaime bei
einer Siesta unter einem der Olivenbäume überraschen. Die Ruine sieht kaum besser aus, als ich sie in Erinnerung habe. „Was habt ihr denn gemacht?“,
frage ich die beiden, während die sich die Augen reiben. „Wir haben hart gearbeitet. Aber das hat die Baubranche eben so an sich. Resultate sieht man
meistens erst nach ein paar Tagen Schufterei“, rechtfertigt sich Jaime. Juan zieht mich zu dem Steinhaufen und erklärt mir genau, wie sein Rückzugsort
aussehen soll. Wieder im Ort ziehen Barbara und ich uns zurück, wir wollen über die ersten Interviews sprechen. Die beiden Männer und Ara verschwinden
in der Küche, um das Abendessen herzurichten.Wir verabreden, dass ich ihr in den nächsten Tagen die ausgefüllten Fragebögen und die
Fotos per E-Mail zusende. Bevor wir ins Wohnzimmer zurückkehren, drückt sie mir eine lange Liste mit Namen und Telefonnummern von Künstlern in die Hand,
die in Dörfern in der Nähe von Málaga wohnen. Zum Abendessen gibt es Tortilla und Salat. „Morgen zeige ich euch die schönsten Pfade durch die
Kastanienwälder und am Fluss Genal“, erklärt Juan, bevor wir alle unter der Bettdecke verschwinden.
Mai
Der Lebenstraum unter der andalusischen Sonne
Ich weiß nicht, wer von uns beiden aufgeregter ist. Es ist ein heißer Tag, viel zu warm für die Jahreszeit. Mit meiner blickdichten schwarzen
Strumpfhose unter dem bunten Rock habe ich bei der Kleiderwahl eindeutig danebengegriffen. Ich spüre, wie meine Wangen erröten. Jaime und ich stehen vor
der Haustür seiner Eltern, die Mutter hat uns zum Paella-Essen eingeladen. Es ist das erste Mal, dass wir uns begegnen.
„Erschrick nicht, ich komme aus einem sehr einfachen Elternhaus“, bereitete er mich seit Tagen auf das Treffen vor. „Das ist mir egal“, wiederholte
ich. Das Viertel, in dem Jaime aufgewachsen ist, zählt ohne Zweifel zu den benachteiligten Gegenden von Málaga. Dicht an dicht drängen sich die
niedrigen, heruntergekommen Häuser auf einem Hügel im Norden der Stadt. Einige der Straßen sind nur notdürftig asphaltiert. Und auch das Häuschen von
Jaimes Eltern hat bessere Zeiten erlebt, die Farbe der Fassade blättert ab, in einem Fenster fehlt die Scheibe. Trotzdem besitzt das Viertel Charme. Es
gibt keine Hochhäuser, jedes Haus hat eine andere Form, einen anderen Anstrich und andere Fenster.
„Hier leben die Arbeiter, die aus den Dörfern in die Stadt gezogen sind, jeder hat sein eigenes Haus gebaut. Als ich ein Kind war, gab es die meisten
der Häuser noch nicht, und keine Straße war asphaltiert. Gleich hinter unserem Haus war eine Wiese“, erzählt Jaime, während wir darauf warten, dass
sich die Türe öffnet. Jetzt sehe ich nur ein nicht enden wollendes Häusermeer. „Ya voy – Ich komm schon“,erklingt endlich eine alte
Stimme. Einen langen Moment war zuvor im Inneren des Hauses nichts zu hören. Das Schloss springt auf und vor uns steht ein kleines, rundliches
Mütterchen mit freundlichem Gesicht. „¡Hola!“ Sie begrüßt mich überschwänglich, umarmt mich fest. Mit ihr empfängt uns ein unwiderstehlicher Duft nach
Paella. Als wir in das Häuschen treten, vermischt sich das Aroma mit dem strengen Geruch von Reinigungsmittel. Anscheinend hat Jaimes Mutter unseren
Besuch auch zum Anlass genommen, das gesamte Haus mit Lejía, einem Chlor-Reiniger, zu
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