Ein Jahr in San Francisco
das erste den schwulen Holocaust-Opfern gewidmete Monument in den USA“, sagt Alex mit belegter Stimme.
Als wir gerade wieder die Straße überqueren wollen, steht plötzlich ein älterer Herr neben uns an der Ampel und mustert uns interessiert von der Seite. Ich schätze ihn auf Mitte sechzig, die Haut um seine Augen ist faltig und grau. „Seid ihr von hier? Kann ich euch irgendwie helfen?“, fragt er, kneift die Augen zusammen und blinzelt uns an. Ich wundere mich über seine direkte Ansprache und weiche ein Stück zurück. „Ja, wir finden uns schon zurecht“, entgegnet Alex freundlich. „Ich dachte, dass ihr vielleicht den geheimen unterirdischen Tunnel zum Pazifischen Ozean sucht. Ich bin Ire und weiß, wovon ich spreche“, sagt er und streckt seinen Arm aus. Dabei zeigt er auf die andere Seite der Straße. Sein Zeigefinger zittert leicht. In diesem Moment schaltet die Ampel auf Grün, und Alex zieht sanft an meinem Arm. Ich bedanke mich bei dem alten Iren, aber der wirkt abwesend und beachtet uns nicht weiter.
„Was für einen unterirdischen Tunnel meint er?“, frage ich. „Ach, es gibt hier in der Nähe der Market Street einen Gang unter der Erde. Der wurde vor vielen Jahren von den Iren erbaut und führt angeblich bis zum Pazifischen Ozean.“ Alex wechselt abrupt das Thema. „Warst du schon mal im Glassarg da vorne?“ Alex zeigt auf eine Eckkneipe am Harvey Milk Plaza, dem Gedenkplatz für Harvey Milk, einst ein Fotoladenbesitzer, der als erster bekennender Homosexueller ein politisches Amt im Stadtrat übernahm. Ich finde die Geschichte mit dem unterirdischen Tunnel interessant und hätte gerne mehr darüber erfahren, aber ich belasse es dabei. „Glassarg?“ – „Ja, die Twin Peaks Tavern – die erste Schwulenbar in der Stadt. Wegen der großen Fenster und des hohen Anteils an grauhaarigem Klientel auch als Sarg bekannt.“ Die Twin Peaks Tavern liegt direkt gegenüber dem Ausgang der Straßenbahn-Station an der Straßenecke Market und Castro Street und ist auch als die schwulste Kreuzung auf der schwulsten Straße des Landes bekannt.
„Leider habe ich nicht mehr so viel Zeit. Lass uns doch einen coffee to go mitnehmen und noch etwas spazieren gehen“, schlage ich vor. „Jetzt schieß endlich los, was dich mit deinem Freund bedrückt. Sonst muss ich gleich gehen, und du hast mir gar nichts erzählt“, fordere ich ihn auf. „Ach, seit dem Burning Man klammert er einfach zu sehr. Er will etwas Festes, und ich habe ein paar andere interessante Typen kennengelernt. Aber wenn ich Schluss mache, breche ich ihm das Herz.“ – „Deine Probleme hätte ich auch gerne“, muss ich zugeben. Ob für die Schwulenszene die gleiche Dating-Systematik gilt wie für mich? Egal, so gut, wie es für eine heterosexuelle Frau eben geht, versuche ich, ihm einen Rat zu geben. Und während wir quatschen und durch das Viertel gehen, begegnen wir mehreren homosexuellen Pärchen, die sich an den Händen halten oder eng umschlungen an uns vorbeischlendern.
Das Schwulenviertel von San Francisco ist wohl einer der wenigen Orte der Welt, an dem niemand sie schief anschaut oder blöde Kommentare von sich gibt. Nachdem 1973 die Homosexualität von der Liste der Geisteskrankheiten gestrichen wurde, erließ San Francisco als erste Stadt ein Gesetz gegen die Diskriminierung dieser Minderheit. Seit 1975 ist Homosexualität in Kalifornien legal; seit einigen Jahren ebenso die gleichgeschlechtliche Ehe. Während wir an eindrucksvollen, fast spießig anmutenden viktorianischen Häusern mit gepflegten Vorgärten vorbeilaufen, klingelt mein Handy. „Hey, wo bist du? Wir treffen uns in fünf Minuten“, sagt Vijay. „Keine Sorge, ich bin noch mit Alex unterwegs – gib mir zwei Minuten.“ – „Okay, bring mir eine Peitsche und ein Spielzeug mit“, scherzt Vijay am anderen Ende. „Shut up“, sage ich lachend und lege auf. „Ich muss los, Alex! Vijay und ich haben einen wichtigen Termin. Den Glassarg holen wir nach. Versprochen!“ – „Oh, spannend. Wegen des Start-up-Dingsbums?“ Ich grinse. „Ja, genau, deine Website-Tipps müssen sich doch bezahlt machen. Ich erzähle dir hinterher, wie es gelaufen ist.“ Ich umarme ihn kurz und laufe zurück zu unserem Lunch-Treffpunkt.
Vijay wartet bereits am Restaurant, mit dabei: Amber. „Schön, euch kennenzulernen“, sagt sie, und sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Typisch für die Start-up-Atmosphäre in der Bay Area ist, dass jeder extrem offen, optimistisch und
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