Ein kalter Hauch im Untergrund - Neal Carey 1
auf dem Boden zusammensacken.
Colin stieß Allie den Griff des Gewehrs in den Bauch, beugte sich über Neal, fühlte nach dem Puls. Nichts. Er packte Allie am Arm und zerrte sie nach draußen zum Motorrad.
Neal hatte erst den Schmerz gespürt, dann ein müdes, blutiges Gewicht auf seinen Augen und seiner Brust und dann gnädige Ruhe.
34
Dr. Ferguson war nicht sonderlich erstaunt, daß ihn jemand um diese Zeit anrief. Manchmal wünschte er sich, er wäre Spezialist geworden, was vor allem spezielle Sprechstunden bedeutete, aber meistens war er mit sich und seiner Arbeit zufrieden. Dr. Ferguson hatte eine öffentliche Leidenschaft für Bücher, eine private Leidenschaft für seine Frau, und er liebte Forellenangeln über alle Maßen.
Für einen wohlhabenden Mann lebte er recht bescheiden. Er investierte sein Geld in wichtige Dinge wie seltene Bücher und einen Anteil an einer Forellenzucht. Also nutzte er einen Teil seines Wohnhauses in St. John’s Wood als Praxis und untersuchte die meisten seiner Patienten entweder dort oder im Krankenhaus. Als das Telefon an jenem Abend klingelte, war seine Sprechstundenhilfe längst gegangen.
Selten warnten ihn Anrufer, sie ja nicht zu unterbrechen, und Ferguson lauschte interessiert und leicht verärgert dem hastigen Gebrabbel dieses jungen Unterschicht-Bürgers. Er ließ zehn Sekunden Stille verstreichen, bevor er antwortete.
»Ah«, sagte er, »darf ich jetzt etwas sagen?«
Nach einer entsprechenden Antwort sagte er: »Zuerst wüßte ich gern, wie Sie in den Besitz dieser Bücher gekommen sind…
Doch, das geht mich etwas an, schließlich fragen Sie mich ja, ob ich sie kaufen will… Aha. Aha… Nein, heute abend paßt es mir gar nicht… Ja, da bin ich sicher. Ich mache nachts niemals Geschäfte… Ganz egal, was man Ihnen gesagt hat. Ich kenne im übrigen einen Mr. Carey, aber der ist Tabakhändler, und ich glaube nicht, daß er… Die früheste Möglichkeit, Sie zu sehen, wäre, lassen Sie mich nachdenken, morgen um halb zwei… Ja? Und Ihr Name?… Nun, ich sollte ihn schon erfahren… Ja, Mr. Smythe, ich freue mich auf Ihren Besuch. Halb zwei morgen nachmittag. Auf Wiederhören.«
Nachdem der scheinbar ziemlich verzweifelte junge Mann aufgelegt hatte, ließ Ferguson sich mit einem Glas Whiskey nieder und durchforstete sein Hirn nach einem Neal Carey, der etwas mit Büchern zu tun haben könnte. Nach einer Stunde hatte er die Antwort gefunden. Allies Welt war eine diffuse Mischung aus Leid und Schlaf. Sie lag in dem heruntergekommenen Appartement in Bayswater, in das Colin sich zurückgezogen hatte, erwachte aus ihrem Drogenschlaf, dachte an Neal und litt. Das dauerte nie lange, denn Vanessa verpaßte ihr schnell den nächsten Schuß. Ein bißchen Stoff, und sie schlief wieder ein.
Eine Weile glaubte sie, sie hätte die lange Reise nach London vielleicht nur geträumt, auf der sie sich an Colin festgekrallt hatte, während er nach Hause gerast war. Sie hatten nur drei- oder viermal haltgemacht – sie konnte sich nicht genau erinnern –, um zu tanken und damit Colin sie hinter das Klo zerren und ihr eine Spritze geben konnte. Sie wußte, daß sie eine Gefangene war, aber nach einer Weile wußte sie nicht mehr, warum. Sie konnte sich daran erinnern, wie das Gewehr losgegangen war, und an das Blut, soviel Blut. Sie konnte sich erinnern, daß sie sich die ersten beiden Male gegen Colin gewehrt hatte, aber dann hörte sie damit auf, und schließlich krempelte sie einfach nur den Ärmel hoch und streckte ihren Arm aus. Mittlerweile wurde sie bereits ungeduldig, wenn Nessa sich mit dem Stoff verspätete.
Sie lag im kleinen Hinterzimmer einer winzigen Wohnung im dritten Stock. Crisp oder Vanessa waren stets bei ihr, und manchmal kam ein junger Orientale und sah nach ihr. Sie konnte Colin in einem anderen Zimmer sprechen hören – aber nur er redete. Telefon. Ihr war’s egal. Sie wollte nichts als den nächsten Schuß. Der ließ sie schlafen und brachte schöne Träume: Träume, in denen das Blut aus Neals Herz in die Luft flutete und zu einem leuchtenden Rosenstrauß wurde; in denen sie bis zum Grund eines tiefen, kalten Teiches tauchte und ihn dort fand, lächelnd, und er so tat, als ob er schliefe; Träume von endlosem Schlaf auf warmen, weichen Wolken, die langsam über die Stadt trieben, und sie konnte alles und jeden sehen.
Bald gab es keinen großen Unterschied mehr zwischen Wachen und Schlafen, und das war Allie nur recht. Sie hatte das wahre
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