Ein kalter Mord - McCullough, C: Ein kalter Mord
siebzig innen plus dreißig Zentimeter Betondecke. Zu weit, um hinaufreichen zu können, viel zu weit …
Der Wind pfiff, aber nachdem sie die Schiebetür erst einmal geschlossen hatte, würde kein Luftzug mehr durch die Isolierverglasung hineingelangen. Bitterkalt schnitt der Wind durch ihren Schlafanzug, als wäre er aus Papier. Desdemona sprang hinauf auf das Balkongeländer, verharrte dort, zehn Stockwerke über der Straße, schwankend, während der Wind an ihr zerrte. Sie griff nach oben über den dreißig Zentimeter dicke
Sims und fand schließlich den unteren Teil der Balustrade eine Etage höher. Da! Nur ihre Größe und ein jugendlicher Hang zum Turnen machten es möglich, aber sie besaß diese Größe, diesen Hang. Mit beiden Händen umklammerte sie die Unterseite des oberen Geländers, löste die Füße von der Balustrade und sprang. Ein riesiger Satz, und sie stand auf dem Balkon über ihrem eigenen.
Ein Stockwerk geschafft, eines noch zu bezwingen. Ohne Verschnaufpause stieg sie auf das Geländer und griff wieder nach dem unteren Teil der Balustrade auf Carmines Etage. Na los, Desdemona, mach’s, bevor du nicht mehr kannst! Wieder hochschwingen, um den Balkon zwei Etagen über ihrem zu erreichen.
Jetzt musste sie nur noch auf dieser Etage von einem Balkon zum nächsten klettern – leichter gesagt als getan, da zwischen dem Ende des einen und dem Anfang des nächsten eine beträchtliche Lücke klaffte. Sie entschied sich, diese Lücke zu überbrücken, indem sie zunächst auf dem Geländer balancierte und dann mit aller Kraft auf die nächste Balustrade hinübersprang. Ihre Füße wurden bereits taub, und in den Händen in ihren Wollhandschuhen hatte sie schon längstkein Gefühl mehr. Aber es war zu schaffen – sie
musste
es schaffen.
Schließlich stand sie auf Carmines Balkon und begann, gegen die Schiebetür seines Schlafzimmers zu trommeln.
»Carmine, Carmine! Lassen Sie mich rein!«, schrie sie.
Die Tür wurde aufgerissen; lediglich mit Boxershorts bekleidet, stand er vor ihr, musterte sie kurz und zog sie dann hinein.
Im nächsten Augenblick hatte er die Daunensteppdecke von seinem Bett gezogen und legte sie ihr um die Schultern.
»Er ist in meiner Wohnung«, brachte Desdemona heraus.
»Bleiben Sie hier und wärmen Sie sich auf«, sagte Carmine, drehte den Thermostat hoch und zog sich noch im Laufen seine Hose an. Dann war er fort.
»Seht euch das an«, sagte er zwanzig Minuten später an Desdemonas offenstehender Tür zu Abe und Corey.
Der harte stählerne Bolzen war einfach durchtrennt worden; ein kleiner Haufen Eisenspäne lag auf dem Boden an der Stelle, wo sich die Absperrung befunden hatte.
»Mein Gott!«, stieß Abe flüsternd aus.
»Wir müssen ein neues Handwerk lernen«, sagte Carmine grimmig. »Wenn das hier irgendwas beweist, dann, dass unsere Vorstellungen bezüglich Sicherheit überholt sind. Um ihn draußen zu halten, hätten wir eine Überlappung des Metalls auf der Außenseite der Tür haben müssen. Oh, er ist weg – genau in dem Moment, als er merkte, dass Desdemona geflohen war, vermute ich. Hinausgehuscht wie ein Gespenst.«
»Wie zum Teufel ist sie nur an ihm vorbeigekommen?«, fragte Corey.
»Sie ist auf ihren Balkon, hat sich zwei Etagen nach oben katapultiert, ist dann über die Balkone der dazwischenliegenden Wohnungen zwischen hier und meinem Apartment gestiegen.Ich habe dann gehört, wie sie gegen meine Balkontür gehämmert hat.«
»Dann muss sie jetzt aber ziemlich fertig sein, bei diesem Wetter – Metallgeländer, der Wind.«
»Desdemona doch nicht!«, sagte Carmine mit einer Spur Stolz in der Stimme. »Sie hat Handschuhe angezogen.«
»Ein Teufelsweib«, meinte Abe ehrfürchtig.
»Ich muss wieder zu ihr. Leitet alles Nötige in die Wege. Durchsucht das Haus vom Penthouse bis in die Keller.«
Als er Desdemona wenig später immer noch unter seiner Bettdecke vorfand, wickelte er sie aus. »Geht’s wieder?«
»Als hätte ich mir die Arme ausgekugelt, so fühle ich mich, aber – ach, Carmine, ich bin entkommen! Er war da, stimmt’s? Ich habe mir das alles nicht nur eingebildet, oder?«
»Ja, er war da. Hat mit so etwas wie einer Bogensäge mit Diamantblatt den Stahlbolzen durchtrennt – eine dünne, feine Säge, die durch alles schneidet, wenn ein Fachmann sie führt. Daher wissen wir jetzt, dass er ein Experte ist. Hat nicht versucht, es zu schnell zu machen und dabei womöglich das Sägeblatt abzubrechen. Dieser Mistkerl! Er hat auf unsere
Weitere Kostenlose Bücher