Ein kalter Mord - McCullough, C: Ein kalter Mord
Manschettenknöpfe.
Für Carmine waren das drei höchst seltsame Morde. Ein Mann, wohlhabend, allein, plus eine arme, hungernde Frau und ein nicht zu ihm gehörendes Kind. Raub war kein Motiv. Alle drei drückten sich draußen im Schnee herum, wo sie doch im Innern des Bahnhofs hätten sein sollen, um sich die Hände an einem Heizkörper zu wärmen. In einem Punkt war er jedoch sicher: Die Bande aus dem Zug hatte nichts mit diesen Morden zu tun gehabt.
Die wirkliche Frage lautete nun, wer war das eigentliche Opfer? Die beiden anderen waren bloß Augenzeugen, wurdengetötet, weil sie gesehen hatten, wer den stumpfen Gegenstand geschwungen hatte, der bei allen dreien mit einigem Ungestüm eingesetzt worden war. Kopf: Das eigentliche Opfer war Leonard Ponsonby. Zahl: Es war die Frau. Wenn die Münze auf der Kante stehenblieb, war es das kleine Mädchen.
Es gab keinerlei Fotos. Die Informationen über die Frau und ihre mutmaßliche Tochter befanden sich in ihrer schmalen Akte neben Ponsonbys deutlich umfangreicherer Akte in dem Archivkarton 2 des Januars. Der ermittelnde Detective war nicht klug genug gewesen, um zu erkennen, dass Ponsonby das erste Opfer hatte gewesen sein müssen; die Frau und das Kind sahen zu, gelähmt vor Angst. Wäre Ponsonby nicht der Erste gewesen, hätte er sich zur Wehr gesetzt. Wer immer den stumpfen Gegenstand gehalten hatte – vermutlich ein Baseballschläger –, war durch den Schnee herangeschlichen und hatte Ponsonby erwischt, bevor der jemanden sich nähern bemerkte. Ein weiteres Gespenst, wie außergewöhnlich.
Als Carmine zu den Archivaren gehen wollte, hatten die bereits ihren Wohnwagen abgeschlossen und Feierabend gemacht – eine halbe Stunde zu früh. Die drei Akten in der Hand ging Carmine ebenfalls: Diese beiden Fachkräfte würden fehlende Akten nicht bemerken, bis er sich entschied, sie zurückzugeben. Ein Duo gelassener kleiner Gauner, die sich in dem Wissen wähnten, dass sich, vorausgesetzt, die Akten verbrannten nicht, kein Mensch genug für ihre Existenz interessieren würde, um sich ihretwegen Kopfzerbrechen zu machen.
Auf dem Rückweg zum County Services Building rief Carmine das Archiv der
Holloman Post
an, um herauszufinden, ob Leonard Ponsonbys merkwürdiger Tod es auf die erste Seite geschafft hatte. Scheinbar sinnlose Gewalt außerhalb der Familie war 1930 praktisch unbekannt; das war etwas, weswegen Zeitungen von entflohenen Geisteskranken schrieben. Unterweltmordegab es während der langen Jahre der Prohibition massenweise, allerdings fielen die nicht in die Kategorie sinnlose Gewalt. Und tatsächlich, selbst nachdem feststand, dass kein Geisteskranker aus irgendeiner Anstalt entflohen war, ließ die
Holloman Post
nicht locker und bestand darauf, dass der Mörder ein entflohener Geisteskranker gewesen sein musste.
Zu seiner Verabredung mit Desdemona kam Carmine zu spät ins Malvolio’s.
»Entschuldigung«, sagte er und rutschte ihr gegenüber in die Sitznische. »Jetzt siehst du, wie das Leben als Freundin eines Polizisten aussieht. Haufenweise geplatzte Verabredungen, eine Menge kalt gewordener Abendessen. Ich bin froh, dass du keine Köchin bist. Essen außer Haus ist die beste Alternative, und nirgendwo geht das besser als im Malvolio’s. Die packen dir wirklich alles ein, von einer kompletten Mahlzeit bis zu einem Apfelkuchen, sobald jemand an die Fensterscheibe klopft.«
»Ich bin ziemlich ähnlich wie der Cop-Freund«, sagte Desdemona lächelnd. »Ich habe bestellt, Luigi jedoch gebeten, noch ein bisschen zu warten. Du bist viel zu großzügig und lässt mich nie zumindest meinen Anteil an der Rechnung bezahlen.«
»In meiner Familie würde ein Mann, der eine Frau bezahlen lässt, gelyncht.«
»Du siehst aus, als hättest du zur Abwechslung heute mal einen recht guten Tag gehabt.«
»Ja, ich habe eine ganze Menge herausgefunden. Das Problem ist nur, ich glaube, es sind alles falsche Spuren. Trotzdem macht’s Spaß, etwas herauszufinden.« Er griff über den Tisch nach ihrer Hand. »Es macht auch Spaß, über dich was herauszufinden.«
Sie drückte seine Finger. »Gleichfalls, Carmine.«
»Trotz dieses fürchterlichen Falls, liebe Desdemona, hat sich mein Leben während der letzten paar Tage verbessert. Und daran hast du einen beträchtlichen Anteil, schöne Frau.«
Nie zuvor hatte sie jemand schöne Frau genannt; sie spürte, wie eine Woge verlegener Freude sie durchspülte, bekam einen hochroten Kopf und wusste gar nicht, wohin sie
Weitere Kostenlose Bücher