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Ein Kelch voll Wind

Ein Kelch voll Wind

Titel: Ein Kelch voll Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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konnte die Gesichter der anderen sehen: Daedalus wirkte wachsam und fasziniert, Jules verängstigt, als könne er sich nicht rühren, Ouida neugierig, Manon aufgeregt und wie das Kind, das sie war. Er selbst sah gespannt aus, eifrig, und doch lag ihm eine schwere Last auf der Brust. Angst.
    Der Sturm, der Blitzschlag. Der gleißende Lichtschein, der die Gesichter erhellte und ihre Züge wie bei einem Relief noch stärker hervortreten ließ. Er sah Cerise. Ihr Gesicht war jung, der Ausdruck offen. Ihr Bauch rundete sich schwer. Das Kind sollte erst in zwei Monaten kommen. Dann der gewaltige Ausbruch der Kraft, der sie alle wie ein Faustschlag traf. Seine Gedanken umklammerten die Energie wie eine Schlange, die sich in seinem Inneren wandte. Das Hochgefühl… die unglaubliche Macht, den wilden, stolzen Hunger, den sie alle verspürten. Die gurgelnde Quelle, die aus dem Untergrund sprudelte, dunkel wie Blut. Als der Blitzschlag die Umgebung erneut erhellte, sahen sie, dass es tatsächlich Blut war. Cerise hielt sich den Bauch, ihr Gesicht verzog sich vor Schmerzen. Das Blut, das um ihre Knöchel floss, Petra, die ihr zur Seite sprang. Richards Gesicht, so jung, so blass…
    Marcel hatte sich nicht bewegt, sondern die Szenerie nur benommen beobachtet, noch immer trunken von der Macht, die durch ihn hindurchströmte.
    Cerise war gestorben, während die anderen sich um sie geschart hatten. Alle außer ihm und Melita. Melita hatte sich ebenfalls im Sog der Macht gesuhlt, hatte mit siegesgewissem Ausdruck zu ihm herübergesehen. Die Kraft ließ sie in ihrer ganzen Herrlichkeit erstrahlen, und sie fühlte eine köstliche Freude, so intensiv, dass es an Schmerz grenzte. Marcel sah es, er sah Melitas Gesicht, während ihre jüngere Schwester bei der Geburt auf der Erde starb.
    Petra hielt ein blutiges, zappelndes Kind in die Höhe. Es war klein und schwach, aber es quäkte, es lebte.
    »V on wem ist das Kind?«, rief sie. Ihre Stimme war unter dem strömenden Regen, der Cerises Körper rein wusch, kaum zu hören. »V on wem ist das Kind?«
    Niemand antwortete. Cerise war gestorben, ohne den Namen des Kindsvaters preiszugeben.
    Doch Marcel hatte es gewusst.
    Jetzt, in seiner Zelle, tat ihm das tiefe Dröhnen der Glocken, welche die Gläubigen zur Morgenandacht riefen, in den Ohren weh. Draußen war es noch dunkel. Mechanisch stand Marcel auf und ging zu dem schartigen Metallwaschbecken, das auf einem ungeschliffenen Tisch stand. Er benetzte sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, das eins wurde mit seinen Tränen und seine Haut gerötet und kribbelnd zurückließ.
    Wie an einem unsichtbaren Faden gezogen, stapfte Marcel lautlos in die dunkle, steinerne Halle hinunter. Zeit, wieder für seine Seele zu beten. Den alles vergebenden Vater um Gnade zu bitten.
    Es würde nichts nützen.

Kapitel 25
    Clio
    »I ch kann nicht glauben, dass Petra dich aus dem Haus gelassen hat«, sagte Racey leise. Von allen meinen Freunden war Racey die einzige, der ich die Geschichte mit dem Zwillingsfluch erzählt hatte. Alle anderen dachten, Nan habe Thais und deren Dad tragischerweise aus den Augen verloren. Und dass wir jetzt bald eine große, glückliche… und so weiter.
    Eugenie und Della liefen lachend vor uns her und ließen ihre hochhackigen Schuhe über den Gehweg klappern. Wir hatten das Auto von Raceys Mom in der Rue Burgundy stehen lassen– in der Nähe vom Amadeo’s zu parken, war so gut wie unmöglich. Und es war sowieso nur ein paar Blocks entfernt.
    »I ch bin schließlich in einer Gruppe unterwegs«, betonte ich und nannte Racey damit dasselbe Argument, das ich auch Nan gegenüber vorgebracht hatte. »U nd ich muss um elf wieder zu Hause sein.«
    Racey verzog das Gesicht und ich nickte mürrisch. »I ch habe ihr gesagt, dass ich unbedingt ausgehen und mich amüsieren, mir einfach mal über nichts Gedanken machen will«, sagte ich. »D iese ganze Geschichte hat mich völlig fertiggemacht. Ich kann da jetzt auch gar nicht drüber nachdenken. Aber ich muss natürlich sehr vorsichtig sein, immer bei euch bleiben und bla, bla, bla.«
    Racey nickte mitfühlend. »H ast du André erreicht?«
    Ich nickte. »I ch habe ihm eine Nachricht hinterlassen, ich hoffe, er hört sie. Ich will ihn unbedingt sehen.« Es kam mir vor, als wäre mindestens ein Jahr vergangen, seit wir zusammen unter der Eiche gelegen hatten, und das war noch untertrieben. In jenem Moment hatte ich mich normal und rundherum wohlgefühlt und ich wollte das Gefühl um jeden

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