Ein Kelch voll Wind
werden wohl morgen hier eintreffen. Alle werden kommen.«
Ouida blickte Daedalus wissend an. Er stellte eine ganze Menge Vermutungen an, und das nicht nur über Petra. »W irklich alle?«, fragte sie.
Daedalus zuckte die Schultern. »E s gibt an der Sache vielleicht ein paar Haken. Aber trotzdem werden bald alle hier versammelt sein.«
Richard legte den Kopf in den Nacken, warf eine Pekannuss in die Luft und fing sie gekonnt mit dem Mund auf. »J a. Ein paar Haken. So kann man es auch nennen.«
»C laire?«, fragte Ouida und schloss aus Daedalus’ Gesichtsausdruck, dass sie recht hatte. »U nd… Marcel?«
Daedalus machte eine ungeduldige Handbewegung. »D ie werden schon noch hier auftauchen.«
Richard fing Ouidas Blick auf. Ganz offensichtlich war er skeptisch, ob Daedalus die letzten beiden Mitglieder noch hierherbringen würde. Ouida war mit einem Mal sehr müde. Sie lehnte sich gegen das Polster aus schwerer Seide. »E s ist nicht nur die Treize«, sagte sie. »E s gibt noch so viele andere Faktoren.«
»A n denen wir durchweg gearbeitet haben«, erwiderte Daedalus aalglatt. »W ir haben alles wunderbar unter Kontrolle. Es könnte sogar schon bei der Récolte passieren. Aber wahrscheinlich eher an Monvoile.«
Ouida konnte das alles nicht so recht glauben. War es nach all der Zeit überhaupt noch das, was sie wollten? Für Daedalus ganz offensichtlich schon. Und für Jules auch. Aber für Richard? Sie betrachtete sein junges Gesicht. Er erwiderte ihren Blick, doch sie konnte den Ausdruck darin nicht deuten.
Abrupt stand sie auf und stellte ihr Glas auf den Tisch. »N un, das kommt ein bisschen plötzlich«, sagte sie. »U nd es gibt viel Stoff zum Nachdenken. Ich werde jetzt erst mal in mein Bed & Breakfast gehen und den Rest des Tages verschlafen.«
Daedalus’ Augen folgten ihr. »N atürlich, meine Liebe. Ruh dich aus. Ich weiß, das ist eine Menge zu verdauen. Jules und ich hatten Monate Zeit, um uns über die Auswirkungen klar zu werden. Aber ich weiß, dass wir auf dich zählen können, wenn die Zeit gekommen ist.«
Ouida blickte ihn wortlos an. Sie nahm ihre Tasche und lief zur Tür. »I ch melde mich.« Als sie nach draußen trat, fühlte sie, wie sich drei nachdenkliche Augenpaare in ihren Rücken bohrten.
Kapitel 24
Die Erlösung geht flöten
Er konnte nicht schlafen. Marcel drehte sich auf seiner Pritsche herum, das Stroh raschelte bei jeder Bewegung. In Wahrheit fürchtete er den Schlaf. Im Schlaf wurde er zur Beute seiner Träume. Im Wachzustand zur Beute von Daedalus. Heute hatte er als Ministrant bei der Messe gedient. Als er die große Altarkerze anzünden wollte, hatte sich der junge Sean, der aus dem Dorf hergeschickt worden war, um ein bisschen auszuhelfen, zu ihm umgedreht und gesagt: »K omm nach New Orleans.« Vor lauter Schreck hätte Marcel beinahe seine Kerze fallen lassen. Dann hatte er die Leere in Seans Augen gesehen und begriffen, dass sich der Junge nicht daran erinnerte, überhaupt gesprochen zu haben.
Seine wachen Stunden verbrachte er in unerträglich angespanntem Zustand. Und schlafen… Die Träume, die durch seinen Verstand geisterten, ließen ihn schluchzend und mit Tränen auf dem Gesicht aufwachen.
Der Tod würde eine so süße Erlösung sein.
Wenn nur, wenn nur…
Die kleine Zelle, die er in den letzten Jahren belegt hatte, war ein Zufluchtsort geworden. Er hatte beinahe schon wieder Hoffnung geschöpft, als die Tage nahtlos ineinander übergegangen und die Jahreszeiten wie Regen durch seine Hände geronnen waren. Er arbeitete hart, studierte, betete mit der Leidenschaft der Bekehrten. Und jetzt, nach alledem, sollte ihm sein Leben weggenommen werden. Seine Hoffnung, sein Friede, die mögliche Erlösung– alles wurde ihm von Daedalus entrissen. Und wofür?
Marcel drehte sich erneut im Bett um und starrte auf die steinerne Wand. Er spürte die Kälte, die kaum einen halben Meter vor ihm aus den Mauern kroch, und schloss die Augen. Die einzige Kerze, die er besaß, war schon vor Stunden heruntergebrannt und schließlich erloschen. Bald wäre es Zeit für die Morgenandacht und er würde in der kurzen Nacht kein Auge zugetan haben. Durch sein kleines Fenster hatte er gesehen, wie die silberne Mondscheibe über den Himmel zog und irgendwann aus seinem Blickfeld verschwand.
Und dann war sie da, einfach so, ohne Vorwarnung. Eine Vision. Die Erinnerung. Wieder stand Marcel in einem Kreis vor einer riesigen Zypresse. Melita begann gerade ihre Beschwörung. Er
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