Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
selbstverständlich das Geheimnis, denn außer ihr erzählte Mrs. Harris keinem Menschen von ihren Plänen und Begierden.
Viertes Kapitel
Eines Abends mitten im Sommer läutete Mrs. Harris in einem Zustand erheblicher Erregung an Mrs. Butterfields Wohnungstür. Ihre Apfelbäckchen waren noch röter als gewöhnlich, und ihre kleinen Augen blitzten vor Aufregung. Sie stand im Bann einer höheren Macht, einer Ahnung, wie sie es nannte. Diese Ahnung lenkte sie zum Hunderennen in White City, und sie sprach bei Mrs. Butterfield vor, weil sie sie bitten wollte, mitzukommen.
«Willst du das Schicksal noch einmal herausfordern, Liebste?» fragte Mrs. Butterfield. «Na ja, ich hab nichts dagegen, mal wieder einen Abend auszugehen. Wie steht’s mit deinen Ersparnissen?»
Die Aufregung machte Mrs. Harris’ Stimme heiser. «Ich hab zweihundertfünfzig Scheine auf der hohen Kante. Wenn ich die verdoppeln könnte, hätte ich mein Kleid nächste Woche.»
«Verdoppeln oder verlieren, Beste?» sagte Mrs. Butterfield, die eingefleischte Pessimistin, die es genoß, die dunklere Seite des Lebens zu betrachten.
«Ich hab eine Ahnung», flüsterte Mrs. Harris. «Komm nur mit, diesmal lade ich ein.»
Es schien Mrs. Harris, als sei es fast mehr als eine Ahnung — geradezu eine Botschaft von Oben. Sie war an jenem Morgen mit dem Gefühl aufgewacht, der Tag sei überaus günstig und ihr Gott schaue mit einem freundlichen und hilfsbereiten Auge auf sie hernieder.
Mrs. Harris hatte ihre Gottheit als Kind in der Sonntagsschule erworben, und sie war in ihrer Vorstellung stets ein Wesen geblieben, das die Merkmale eines Kindermädchens, eines Polizisten, eines Richters, eines Weihnachtsmanns und eines Allmächtigen von mancherlei Launen in sich vereinigte und sich zu jeder Stunde mit ihren Angelegenheiten beschäftigte. Nach dem, was ihr zustieß, konnte sie immer sagen, welche Erscheinungsform in dem Allmächtigen vorherrschte. Wenn sie ungezogen gewesen war, nahm sie ihre Strafe von Oben hin, ohne zu murren, genau wie sie ein Urteil des Gerichts hingenommen hätte. Ebenso erwartete sie, wenn sie gut gewesen war, eine Belohnung; war sie in Not, bat sie um Beistand und erwartete Hilfe; stand alles wohl, war sie stets bereit, das Verdienst daran mit dem lieben Gott zu teilen. Jehova war ihr persönlicher Freund und Beschützer, und dennoch war sie immer ein bißchen auf der Hut vor ihm, wie etwa vor einem älteren Herrn, der gelegentlich an unerklärlichen Anfällen schlechter Laune litt.
Als sie an jenem Morgen von dem Gefühl geweckt wurde, es werde ihr etwas Wunderbares zustoßen, war sie davon überzeugt, daß es sich nur um ihren Wunsch, das Kleid zu besitzen, handeln könne und daß sie bei dieser Gelegenheit der Erfüllung ihres Begehrens nähergebracht werden sollte.
Den ganzen Tag während der Arbeit war sie auf den Empfang weiterer Nachrichten eingestellt — vor allem, welche Form die erwartete Gabe annehmen werde. Als sie in Miss Pamela Penroses Wohnung eintraf, tun die wie gewöhnlich sträfliche Unordnung zu beseitigen, die die aufstrebende Schauspielerin hinterlassen hatte, lag eine Nummer des Evening Standard auf der Erde; als ihr Blick darauf fiel, sah sie, daß am Abend in White City ein Hunderennen stattfinden solle. Das war’s! Die Botschaft war abgesandt worden und angekommen. Nun brauchte es nichts mehr, als den rechten Hund und den rechten Preis zu finden, den Gewinn einzustreichen und sich nach Paris aufzumachen.
Weder Mrs. Harris noch Mrs. Butterfield waren Fremde in dem Paradies, das sich White City nannte, doch an jenem Abend bedeutete ihnen das Schauspiel, das sie sonst so sehr gefesselt hatte — die von elektrischen Scheinwerfern bestrahlte Rennbahn, das Dahinflitzen des mechanischen Hasen, die Reihe der keuchenden Hunde dahinter, die lärmende Menge auf den überfüllten Tribünen und vor den Wettschaltern —, nichts anderes als ein Mittel zum Zweck. Inzwischen war auch Mrs. Butterfield vom Fieber gepackt worden und watschelte, Mrs. Harris auf den Fersen, vom Startplatz zur Tribüne und wieder zurück, ohne den geringsten Einwand zu erheben. Sie erlaubten sich nicht einmal eine Pause, um eine Tasse Tee und ein Würstchen im Erfrischungsraum zu sich zu nehmen, so eifrig waren sie darauf bedacht, sich auf die vor ihnen liegende Arbeit einzustimmen.
Sie untersuchten das Rennprogramm nach Winken, prüften die langen, dünnen, sehnigen Tiere und spitzten die Ohren, um jeden Renntip aufzufangen. Diese
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