Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
in ihrem Netz hockende große, fette graue Spinne, die nur darauf lauerte, sich auf ihr Opfer zu stürzen. Beide waren dekorierte Veteranen des KGB, das bei diesem gefährlichen Paar aus England keinerlei Risiko eingehen wollte. Die Spinne wurde übrigens später von Ada getauft und prägte sich ihr unter diesem Namen unauslöschlich ein.
Mrs. Bärbeiß’ Augen funkelten, und ihr Mund schien wie geschaffen, Gift zu speien. Der große Kopf saß direkt auf dem stämmigen Rumpf.
Die beiden Russinnen wechselten einige Worte in ihrer Sprache. Mrs. Bärbeiß übergab der anderen den Schlüssel, und die Reiseleiterin sagte: «Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Ich hoffe, Ihnen gefällt.» Sie ging mit Ada und Violet bis zum Ende des Ganges, schloß eine Tür auf und ließ sie eintreten. Gleich darauf erschien ein Zimmermädchen mittleren Alters, adrett mit Schürze und Häubchen, und Praxewna Ljeljeschka sagte etwas zu ihr, wiederum auf russisch. Es fiel Mrs. Harris sofort auf, daß das Zimmermädchen einen verängstigten Eindruck machte, obwohl sie wahrscheinlich lediglich gefragt worden war, ob das Zimmer in Ordnung sei.
«Hier», sagte die Fremdenführerin, «sehen Sie Aussicht. Wundervoll. Siein Zimmer bleiben. Nicht Weggehen. IchSie zum Abendessen abholen. Danke.» Sie ging, doch bevor sie die Tür schloß, sah Mrs. Harris, daß das Zimmermädchen, das schon vorher hinausgegangen war, sich draußen im Gang in einer Ecke postiert hatte.
Nachdem die Zimmerfrage geregelt war, fand Mrs. Harris ihr seelisches Gleichgewicht wieder, und ihr gesunder Menschenverstand kehrte zurück.
In ihrem Beruf als Putzfrau hatte Mrs. Harris im Laufe der Jahre natürlich alle möglichen Wohnungen und Einrichtungsstile kennengelernt. Hier in diesem Moskauer Hotelzimmer fand sie sich von neu-viktorianischen roten Plüschquasten, Messingbetten, Farbdrucken aus dem 19. Jahrhundert, schweren Vorhängen und Bett-Zierdecken mit Fransen umgeben, was auf den ersten Blick keineswegs unangenehm wirkte, doch bei genauerem Hinsehen entdeckte man Zeichen von Staub und Verfall. Das Zimmermädchen schien nicht viel zu taugen.
Der abschätzende Blick, mit dem sie das verwohnte Hotelzimmer maß, erinnerte Mrs. Harris daran, wer und was sie war und daß sie besser daran getan hätte, sich nicht solchen Hirngespinsten in bezug auf Mr. Lockwood und die Dame seines Herzens hinzugeben. Er hatte gesagt, Liz betreue als Intourist-Fremdenführerin die Gruppenreise 6A und würde sie am Flughafen in Empfang nehmen. Nun, sie war nicht dagewesen. Inzwischen befand sie, Ada Harris, sich zusammen mit ihrer besten Freundin, die von ihr praktisch dazu gezwungen worden war, sie zu begleiten, in diesem unbekannten, fremden Land, um hier ein paar Urlaubstage zu verbringen. Jeder vernünftige Mensch würde Mr. Lockwood & Co. jetzt schleunigst aus seinen Gedanken verbannen und sich seines Lebens freuen. Ihre Reiseführerin war augenscheinlich bemüht, ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, und für ihr Äußeres konnte sie nichts, ebensowenig Mrs. Bärbeiß. Damit war dieses Thema erledigt. Sie trat ans Fenster und sah hinaus, und sofort konnte sie mit dem beginnen, was sie sich vorgenommen hatte — nämlich ihren Urlaub zu genießen, denn der Anblick, der sich ihr bot, war atemberaubend.
Sie hatte keine Ahnung, wo das Hotel lag, und wußte also nicht, daß von hier aus ein Teil der gewaltigen Kremlmauer zu sehen war sowie die Basilius-Kathedrale und der Rote Platz mit dem Lenin-Mausoleum. Es war inzwischen dunkel, und die Lichter brannten, und sie war ganz verzaubert von dem Bild, das vor ihr lag. In helles Licht waren die farbenprächtigen Mauern, Wehr-, Glocken- und Kirchtürme getaucht, einige davon in Zwiebelform, während andere aussahen, als trügen sie einen orientalischen Turban. Alle ragten hoch in den Himmel und boten der Phantasie reichlich Nahrung. Riesige rote Sterne gleißten von Turmspitzen, die Kuppeln der Kirchen zeichneten sich in leuchtendem Blau und Gelb ab, einige in sanft schwingenden Konturen, andere kantig und rauh, wie aufeinandergestapelte Ananasfrüchte. Der Teil des gewaltigen Platzes, den sie von ihrem Fenster aus sehen konnte, glich einer angestrahlten Wasserfläche. In der Ferne glitzerten die erleuchteten Fenster hoher Wohnhäuser. Mrs. Harris, der nicht allzu viele Vergleichsmöglichkeiten zu Gebote standen, empfand das Ganze als eine Verbindung zwischen einer edelsteinübersäten Märchenstadt
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