Ein kleines Stück vom Himmel nur
während er versagt hat.«
»Das weiÃt du doch gar nicht«, sagt Nancy.
»Nein, aber ich kann eine begründete Vermutung wagen. John hätte bestimmt nicht drei Exfrauen, die ihm das letzte Hemd ausziehen, darauf möchte ich wetten. Er wäre mit einer netten Frau verheiratet, hätte zwei oder drei wohlgeratene Kinder und ein eigenes Häuschen.«
»Das glaube ich kaum«, sagt Nancy. Ihre Stimme klingt nachdenklich, beinahe wehmütig.
»Aber natürlich hätte er das.«
»Nein, Frau und Kinder eher nicht«, sagt Nancy.
Ellen runzelt verwundert die Stirn. Nancy klingt nicht so, als würde sie vor sich hin theoretisieren, eher so, als rede sie über Tatsachen.
»Wie meinst du das, Mom?«
Nancy schweigt einen Moment. Dann seufzt sie und blickt Ellen in die Augen.
»Die Wahrheit ist, Ellen«, noch eine Pause, »die Wahrheit ist, dass John schwul war.«
»Was?« Ellen traut ihren Ohren kaum. »John? Schwul?« Ihre Stimme ist eindringlich. »Mom, ich glaube, da hast du was falsch verstanden.«
»Keineswegs.«
»Wie kommst du darauf, dass er schwul war?«
»Ich weià es, Ellen.«
»Aber ⦠er hatte doch Freundinnen. Die Mädchen sind ihm doch in Scharen nachgelaufen.«
»Ja, das sind sie.« Nancy lächelt ein wehmütiges, trauriges Lächeln. »Er konnte es ganz gut verbergen, das gebe ich zu. Es wundert mich nicht, dass du keinerlei Verdacht hattest. Sein Vater hat auch nichts geahnt, Gott sei Dank. Es hätte Joe umgebracht, wenn er das vermutet hätte. Die Enttäuschung ⦠die Schande ⦠Damals galt es noch als Schande. Die Leute hatten nicht so freizügige Ansichten wie heute. Allerdings hätte es Joe heutzutage ganz genauso geschmerzt. Ich glaube nicht, dass er sich je damit hätte abfinden können, dass sein Sohn eine ⦠Na ja, du kannst dir schon vorstellen, was für einen Ausdruck er benutzt hätte. John wusste das. Er wusste, dass es seinem Vater das Herz brechen würde. Das war einer der Gründe, warum er es für sich behielt.«
Er hatte es für sich behalten. Noch mehr Geheimnisse. Hört das denn in dieser Familie gar nicht mehr auf?
»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagt Ellen, obwohl das bloà ihre Art ist auszudrücken, wie schockiert sie ist. Sie weiÃ, dass Nancy keinen Grund hat zu lügen. »John ⦠schwul. Wann hast du das erfahren?«
»Ganz sicher erst, als er schon tot war. Ich hatte schon einige Zeit den Verdacht. Ich weià auch nicht, warum â mütterliche Intuition, nehme ich an.« Sie hält inne und überlegt. »Vielleicht hattest du Recht, Ellen. Vielleicht habe ich ihn ein bisschen anders behandelt als dich und Ritchie. Wahrscheinlich habe ich immer schon geahnt, dass er anders war, irgendwie besonders ⦠Ach, ich weià nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich glaube, ich habe intuitiv gespürt, dass er ganz besonders viel Verständnis brauchte, irgendetwas, was jenseits meiner Erfahrung lag. Trotz seines Erfolgs bei allem, was er tat â und, mein Gott, er war wirklich gut in allem, was er anging â, hatte ich immer das Gefühl, dass ihn irgendetwas quälte. Er hatte eine Verwundbarkeit, die ich mir nicht erklären konnte. Ich kann es nicht begründen, aber ich glaube, dass ich es insgeheim geahnt habe, noch ehe er es selbst wusste.
Er hat es sich lange nicht eingestanden. Er wollte sich einreden, dass er in Wahrheit gar nicht so empfand, dass er nicht anders war als die anderen. Er hatte seine Freundinnen und hat versucht, sich mit ihnen so zu benehmen, wie er es für âºnormalâ¹ hielt. Er konnte sich nicht erklären, warum es ihm nicht richtig vorkam, warum es für ihn nicht funktionierte. Und dann ist er nach Vietnam gegangen.
Nancy hält wieder inne, umklammert den leeren Becher, der vor ihr auf dem Tisch steht, bemüht, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. Diesmal unterbricht Ellen sie nicht. Sie wartet still und geduldig ab.
»In Vietnam hat er jemanden kennengelernt«, fährt Nancy schlieÃlich fort. »Sie ⦠haben sich ineinander verliebt. Und John hat auf einmal gemerkt, was ihm bis dahin im Leben gefehlt hatte. Er hatte eine Lüge gelebt und versucht, das, wonach er suchte, bei Mädchen zu finden. Nun wurde ihm klar, dass er tiefe Gefühle nur für einen anderen Mann empfinden
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