Ein König für Deutschland
er diese Frage gestellt hatte. Etwas in ihm hatte Angst, dass heute, hier, in diesem Gespräch ein Traum sterben würde.
»Es fällt mir schwer zu glauben, dass die Menschen mich wirklich als König wollen«, sagte Simon. »Ich denke immer noch, dass am Tag der Wahl einfach das Programm in den Wahlgeräten aktiv war.«
»Aber einmal angenommen, es wäre tatsächlich nicht so gewesen?«
Simon überlegte. »Dann«, sagte er bedächtig, »würde ich das annehmen. Und mein Bestes tun, um dieser Stellung gerecht zu werden.« Er dachte weiter nach, auf eine Weise, die Leo die Anspannung nicht zu nehmen vermochte. »Aber schon dass ich es von diesem Kriterium abhängig mache, ist im Grunde demokratisches Denken, verstehen Sie? Die Könige früher wurden zwar zum Teil auch gewählt, aber sie haben dennoch ihre Position vom Willen Gottes hergeleitet – vom Schicksal, würde man heute vielleicht sagen. Ein Votum als Legitimation, das hätten sie nicht verstanden …«
»Aber so, wie das hier alles gekommen ist«, warf Leo ein, eine umfassende Geste machend, »das ist doch auch Schicksal!«
Simon stutzte. »Ah. Ja. Stimmt, das kann man auch so sehen …«
Er sah grübelnd vor sich hin, nickte sinnend: ein Anlass zu hoffen? Leo schwieg gespannt.
»Wir haben es, was diese Dinge anbelangt, mit einer tief greifenden kulturellen Entwicklung zu tun«, fuhr Simon schließlich fort. »Das Selbstverständnis des Einzelnen hat sich über die Jahrhunderte grundlegend verändert. Die Könige, der Adel – das hat Europa geprägt, war in bestimmten Epochen ein wesentlicher Einfluss. Aber das ist vorbei. Und es ist vorbei, weil die Menschen heute anders sind.«
Er sah Leo an. »Vergegenwärtigen Sie sich die jüngste Geschichte. Da sehen Sie, dass, wenn in einem Land die Monarchie abgeschafft wird, sie in aller Regel nicht mehr zurückkommt. Als einzige Ausnahme fällt mir Spanien ein, wo König Alfons XIII. eine Militärdiktatur installierte – die Miguel de Riveras –, aus der über allerlei Umwege eine weitere Militärdiktatur wurde – die Francos –, die am Ende wieder einen König installierte. Aber ansonsten … Nehmen Sie Afghanistan. Als das Taliban-Regime gestürzt war, gab es einen legitimen König, Zahir Shah 92 , den man wieder hätte inthronisieren können. Doch man hat es nicht getan.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, die Zeit der Könige ist vorbei. Wir wollen keine Alleinherrscher mehr, weil wir nicht mehr an dieses Konzept glauben. Die Gewaltenteilung, das System der checks and balances , der permanente Disput widerstreitender Meinungen, aus dem sich schließlich Entscheidungen herausbilden: Das ist das heutige Modell. Wir haben heute ein anderes Menschenbild. Auch was die Abstammung betrifft, übrigens. Dass sich prägnante Eigenschaften oft auf Kinder vererben, das hat man früh bemerkt; von daher lag es nahe, den Sohn eines Königs zum nächsten König zu machen …«
»Das ist doch aber auch so«, wandte Leo ein. »Ich meine, dieGenetik, die DNS und so – man weiß das heute sogar noch viel genauer als früher!«
»Ja, aber wir wissen auch, dass alles viel komplizierter ist. Dass ›reines Blut‹ Unsinn ist. Dass es kein ›königliches Blut‹ gibt. Wir wissen, dass manchmal der Sohn eines Dummkopfs ein Genie ist und manchmal der Sohn eines Genies ein Dummkopf.« Simon hob den Zeigefinger, auf eine Weise, die für ihn charakteristisch war: Das machte er immer, wenn er in einem Gespräch etwas Wesentliches herausgearbeitet hatte. »Und damit sind wir beim entscheidenden Punkt: Wenn Sie den Zugang zu einem Amt über Abstammung regeln, bekommen Sie tatsächlich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit einen fähigen Nachfolger – aber mit größerer Wahrscheinlichkeit schließen Sie dadurch jemanden von der Nachfolge aus, der noch fähiger wäre. Mit anderen Worten, auf diese Weise nutzen Sie die vorhandenen Möglichkeiten nicht optimal. Deswegen hat man diese Vorgehensweise aufgegeben – nicht aus moralischen Gründen, sondern weil es das schwächere Konzept ist. Und im Begriff des Königs schwingt das nun einmal unauflöslich mit – die Idee, dass Abstammung alles ist.«
***
Alex lag in seinem Sessel, bleich wie die Wand. So kannte Root ihn gar nicht.
»Es wäre echt nützlich gewesen, das ein paar Wochen eher zu erfahren«, stieß Alex endlich hervor.
»Ich weiß das alles selber erst seit gestern.«
Alex setzte sich ruckartig auf. »So ganz verstehe ich das immer noch nicht. Die Chips, okay. Aber
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