Ein Kuss für die Ewigkeit
Zehenspitzen verließen Lizette und Finn ihr Schlafgemach. Sie gingen zügig die Treppe hinunter bis in den großen Saal, wo Hunde, Soldaten und Diener auf Strohmatten schliefen. Die Hunde hoben kurz den Kopf, sahen in den beiden aber keine Bedrohung und legten sich wieder hin. Von den Männern nahm keiner etwas wahr, stattdessen schnarchten sie gemächlich weiter.
Zielstrebig lief Finn auf die zu Wimarcs Privatgemach führende Treppe zu, als könnte nichts und niemand ihn aufhalten. Lizette folgte ihm genauso entschlossen, weil sie Beweise gegen Wimarc sammeln wollte. Sollten die nicht zu finden sein, dann würden sie hoffentlich zumindest Ryder befreien und fliehen können. Natürlich hatte Finn recht, wenn er sagte, es sei zu gefährlich, noch länger hier zu verweilen.
Im Schutz der nächtlichen Schatten gelang es ihnen, sich durch den zweiten Eingang in die alte Festung zu schleichen. Vor Wimarcs Privatgemach angekommen, zog Finn sein Werkzeug aus dem Gürtel und öffnete das Schloss. Sie betraten den in Dunkelheit getauchten Raum dahinter und bewegten sich auf den Tisch zu. Das einzige Licht, das durch die Fensterschlitze in den Raum drang, war der Mondschein. Mit dem passenden Werkzeug und geübter Fingerfertigkeit hatte Finn die kleine Truhe, von der Lizette vermutete, dass sie wichtige Unterlagen enthielt, nach wenigen Augenblicken geöffnet. Darin befanden sich mehrere aufgerollte Pergamente.
„Ich muss sehen, was darauf geschrieben steht“, flüsterte sie. „Wir können nicht alle mitnehmen.“
„Ich passe an der Tür auf“, erwiderte Finn. „Setz dich auf den Boden und zünde die Kerze an. Der Tisch sollte den Lichtschein vor den Wachen auf der Brustwehr verbergen.“
Lizette nickte und zündete die Kerze mit dem Feuerstein an, den sie aus der Küche mitgenommen hatte, als sie dort vor dem Abendessen warmes Wasser geholt hatte. Sie zog die Bänder ab, mit denen jede Rolle zugeschnürt worden war, und überflog den jeweiligen Inhalt. Insgeheim dankte sie dabei ihrem Vater, dass der entschieden hatte, seine Töchter sollten das Lesen lernen, weil es ihren Wert als Bräute steigerte.
Die meisten Briefe schienen harmlos zu sein, dennoch sah sie bei jedem nach, wer ihn geschickt hatte. Manche stammten von Adligen, von denen bekannt war, dass sie gegen den König eingestellt waren, doch nicht einmal diese Schriftstücke waren allzu belastend. Auf keinen Fall würden sie genügen, um Wimarc oder einen anderen dieser reichen und mächtigen Adligen des Verrats zu überführen.
„Hier deutet nichts auf eine Verschwörung gegen den König hin“, sagte sie enttäuscht.
„Du musst die Truhe von allen Seiten abtasten. Drück auf jede Einbuchtung und alles, was dir irgendwie ungewöhnlich vorkommt. Es könnte ein Geheimfach geben.“
Tatsächlich entdeckte sie an der linken Seite eine Vertiefung, und als sie darauf drückte, öffnete sich eine Klappe so wie eine kleine Zugbrücke. Dahinter entdeckte Lizette ein schmales Fach mit weiteren Pergamenten.
Neue Hoffnung keimte auf, als sie diese Briefe begutachtete. Die Verfasser sicherten Wimarc und seinen Plänen, den König zu stürzen, ihre volle Unterstützung zu. Wut und Hass auf den Monarchen war aus jeder Zeile herauszulesen, und Lizette war verblüfft, wie viele Männer bereit waren für eine Rebellion. Einige von ihnen schlugen vor, Wimarc selber sollte den Platz auf dem Thron einnehmen. Andere plädierten dafür, die Frau sollte die Nachfolge antreten, die ohnehin bereits einen Anspruch auf den Thron angemeldet hatte: Lady Eleanor, die Enkelin von Henry II. und Schwester des ermordeten Arthur. Aus den Dokumenten wurde außerdem ersichtlich, dass einige dieser Männer sich Hoffnungen darauf machten, mit Wimarcs Hilfe diese junge Frau zu ehelichen.
Es war offensichtlich, dass Wimarc mehreren Adligen diese Chance in Aussicht gestellt hatte, damit sie ihm zur Seite standen. „Das ist genau das, was wir brauchen!“
„Wir müssen leider tatsächlich einige der Schriftstücke hier lassen“, meinte Finn ernst. „Sonst weiß er, dass wir ihn durchschaut haben, und er wird fliehen, bevor er festgenommen werden kann. Steck die zwei oder drei Briefe ein, die ihn am meisten belasten, das sollte reichen.“
Wieder nickte sie, entschied sich für die untersten drei Pergamente, rollte sie zusammen und schob sie in ihr Mieder. Anschließend wählte sie drei harmlose Briefe aus der Truhe aus und legte sie mit in das Geheimfach, damit es genauso voll aussah
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