Ein Kuss fur die Unsterblichkeit
Raniero gab sich keine Mühe, die
Verbitterung in seiner Stimme zu verbergen. »Ich werde gezwungen, gegen Lucius
zu kämpfen, und ich werde geschlagen, wenn ich nicht die Erwartungen erfülle,
die an einen Krieger gestellt werden – sogar an einen, der noch ein Kind ist.«
Er sah mich wieder an. »Aber du kennst diese Geschichte.«
»Ja«, sagte
ich leise. »Lucius hat mir erzählt, dass er oft geschlagen wurde.«
Raniero
nickte. »Si. Aber Lucius wird von Geburt an so erzogen. Er kennt keine
sanfte Berührung. Und er ist von Natur aus unerschütterlich. Niedergeschlagen
zu werden – ausgepeitscht und verwundet –, das macht ihn nur noch stärker und
entschlossener, noch mehr zu kämpfen.«
Ich war
stolz auf meinen Mann und gleichzeitig war mir zum Heulen zumute, so wie das
erste Mal, als er mir gegenüber zugegeben hatte, dass er verprügelt worden war.
Etwas ganz Ähnliches empfand ich in diesem Moment auch für Raniero. »Und du?«,
fragte ich.
Er krallte
die Finger in die Armlehne der Couch, sodass seine Knöchel weiß hervortraten.
»Ich werde körperlich stark und zornig.«
Draußen kam
ein weiterer karpatischer Wintersturm auf. Der Wind sauste den Kamin herunter
und ließ die Flammen auflodern und mich zusammenzucken. Aber vielleicht war
es auch Ranieros Gesichtsausdruck.
Eine Weile
sagte er nichts und ich ließ ihn einfach in die Ferne starren. Seine Brust hob
und senkte sich und ich dachte schon, dass er vielleicht eine Art
Meditationstechnik praktizierte, um sich zu beruhigen. Als er mich wieder
ansah, schien er weniger aufgeregt – aber ich wusste, der schlimmste Teil der
Geschichte musste noch kommen. Ich hatte seinen Pflock gesehen ...
»Raniero?«,
drängte ich ihn vorsichtig weiterzuerzählen. »Woher hast du das Tattoo auf
deiner Hand? Das, das kein Zeichen für Frieden ist?«
Kapitel 48
Antanasia
Raniero schaute seine Hand an, als wenn er
sie gerade zum ersten Mal sehen würde – oder als wenn er sie verabscheute. Er
drehte sie hin und her und starrte die Finger an, als wären sie seine
Todfeinde. Dann sah er wieder auf und er schien nicht länger zornig zu sein.
Nur noch gequält – und verwirrt.
»Ich weiß
nicht genau, was passiert ist«, sagte er. »Es gibt einen Punkt, wo alles nur
noch Wahnsinn ist. Wo der Druck so stark ist, dass alles nur noch schmerzt.«
Auf einmal
spürte auch ich diesen Druck auf der Brust und ich konnte kaum noch atmen. Ich
wusste, wovon er sprach. Ich zerbrach unter diesem Druck. Ich hatte so lebendig
geträumt, ich hätte schwören können, dass ich Lucius verletzt hatte ...
»Ich hatte
das Gefühl, ich habe keine Kontrolle mehr über mich.« Raniero lächelte so
verbittert, wie ich noch nie jemanden lächeln gesehen hatte. »Und doch werde
ich genau so, wie sie es wollen. Der größte Krieger. So hinterlistig und
grausam, dass, als ich fünfzehn bin, die Ältesten entscheiden, Lucius und ich
haben genug trainiert und ich bin bereit, auf andere Art nützlich zu sein.
Bereit für eine neue Aufgabe.«
»Eine ...
Aufgabe?«
»Si.« Raniero hatte seine Gefühle nun
wieder im Griff und sah mich gelassen an. »Ich werde durch die Welt ge
schickt, um abtrünnige Vampire zu finden und ihrer gerechten Strafe
zuzuführen.«
Bei den
Worten wich ich unwillkürlich ein Stück zurück und fühlte mich gleich darauf
schlecht deswegen. Ich wusste, was er meinte. Lucius hatte mir von diesen
Killern erzählt, als er mir erklärt hatte, wie die »Justiz« der Vampire
funktionierte.
»Ich war
das, was man einen Kopfgeldjäger nennt«, erklärte Raniero und benutzte den
Begriff, der mir durch den Kopf gegangen war, als Lucius mir aus den
Gesetzbüchern vorgelesen hatte. »Und ich sollte die vernichten, die nicht
freiwillig zu ihrer Verhandlung mitkamen.«
Ich hörte
meine nächste Frage selbst kaum, so leise und zögerlich kam sie aus meinem
Mund. »Wie oft ist das passiert?«
Ranieros
Blick war voller Reue. »Du kennst doch langsam deine Artgenossen.« Dann machte
er eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Manche sagten, ich bin kein Kopfgeldjäger,
sondern ein Mörder. Als Lucius davon geredet hat, den Lynch-Mob als die
vorherrschende Form der Vampirjustiz abzuschaffen, meinte er mich und andere
wie mich. Ich selbst war der Mob, denn ich arbeite so effektiv, ich brauche
keine Unterstützung. Ich war ein ›Mob‹ bestehend aus einer Person.«
Der Wind
heulte um die Burg und ich starrte Raniero an, unsicher, ob ich nun entsetzt
oder erleichtert sein sollte,
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