Ein Kuss und Schluss
redete Sandy und ließ angeregt den Pferdeschwanz hin und her schaukeln, während sie Renee immer neue Geschichten über sie und ihre Brüder erzählte. Nach einiger Zeit merkte Renee, dass sie John allmählich in einem ganz anderen Licht sah. Bisher hatte sie gedacht, er sei als Polizist geboren worden und werde als Polizist sterben, ohne dass es dazwischen etwas anderes gab. Und jetzt stellte sie fasziniert fest, dass er tatsächlich ein alltägliches Leben hatte. Auch wenn sich Renee sicher war, dass ihr das Wort VERBRECHERIN wie ein Tattoo auf die Stirn geschrieben stand, fragte Sandy nicht ein einziges Mal, ob sie in letzter Zeit zufällig einen Supermarkt ausgeraubt hatte.
Doch der angenehmste Aspekt war, dass Sandys Geplapper sie daran hinderte, über die Tatsache nachzudenken, dass sie platzen würde, wenn sie nicht in nächster Zeit eine Toilette aufsuchen konnte.
Sandy hatte eine weitere Geschichte abgeschlossen und sah sie nun nachdenklich an. »Was mich interessieren würde ... wie denkst du über meinen Bruder?«
Ich denke, er wird zum Berserker; wenn er sieht, dass ich mit seiner Schwester plaudere, während ich an sein Bett gefesselt bin.
»Nun, wir kennen uns noch nicht allzu lange, aber er scheint ein ganz netter Kerl zu sein.« Das entsprach zumindest teilweise der Wahrheit. Schließlich hatte er sie nicht ins Gefängnis gebracht. Das war doch wirklich ein ausgesprochen netter Zug, nicht wahr?
»Würdest du ihn gerne besser kennen lernen?«
»Äh ... ja. Sicher.«
»Gut. Aber ich muss dir sagen, dass es nicht einfach sein wird. Wie ich bereits sagte, kniet er sich viel zu tief in seine Arbeit. Er hat die schlechte Angewohnheit, den Frauen ziemlich schnell klar zu machen, was sie von einer Beziehung mit ihm zu erwarten haben. Und wenn sie sich dann leise beklagen, dass er so lange arbeitet oder kaum über etwas anderes als seinen Job spricht, ist die Sache für ihn gestorben. Er wendet sich ab und tut irgendetwas, das sie so sehr ärgert, dass sie ihn verlassen, oder er sucht nach Kleinigkeiten, an denen er herumnörgeln kann, damit er einen Grund hat, die Beziehung zu beenden. Einmal hat er eine Frau rausgeworfen, nur weil sie seine Zahnbürste benutzt hat. Kannst du dir das vorstellen?«
Nein, dieser Gedanke war ihr völlig fremd!
»Solche Spielchen wird er auch mit dir treiben, wenn du es zulässt. Aber wenn du all den Mist, den er dir voraussichtlich auftischen wird, mit einem Schulterzucken abtust und ihm das Gefühl gibst, dass er dich auf diese Weise nicht vertreiben kann, könnte er irgendwann einsehen, dass eine dauerhafte Beziehung vielleicht doch nicht so abscheulich ist, wie er bisher immer gedacht hat. Und dann werdet ihr wunderbar miteinander zurechtkommen.«
Oh, das klang ja wirklich reizend! Es versprach, genauso vergnüglich zu werden, wie auf dem Bauch durch feindliches Territorium zu robben und zu beten, dass man keine Landmine zur Explosion brachte. »So einfach ist das also, hm.«
»Okay, ich habe es vielleicht etwas schlimmer dargestellt, als es ist. Aber ich will dir etwas sagen, Alice. Es lohnt sich, um ihn zu kämpfen. Nicht einmal er selbst weiß es, aber so ist es. Er ist ein sehr guter Mann, nur dass er sich in seinem Leben auf die falschen Dinge konzentriert hat. Aber ich verspreche dir, wenn du an ihn glaubst, wirst du eines Tages froh darüber sein.«
Ein sehr guter Mann. Renee spürte ein Kribbeln auf dem Rücken, als Sandy das sagte, weil sie in den vergangenen Tagen immer wieder kleine Hinweise gesehen hatte, dass er eigentlich ganz in Ordnung war. Allein die Tatsache, dass sie sich hier und nicht im Knast befand, war ein schlagender Beweis dafür. Und trotz des Geschreis, des Geschimpfes und der Auftritte als knallharter Bulle hatte sie immer wieder Risse in seiner Panzerung bemerkt. Und Sandy machte diese Risse mit jedem Wort, das sie sagte, größer.
Dann hörte Renee, wie ein Schlüssel ins Schloss der Haustür gesteckt wurde. Ihr Herz schien plötzlich in ihre Kehle zu springen. Falls sich kein weiteres Familienmitglied vorgenommen hatte, mal vorbeizuschauen, konnte es eigentlich nur John sein.
»Endlich kommt er zurück«, sagte Sandy. »Das wurde auch Zeit!«
Renee hörte Schritte, die sich durchs Haus bewegten. Schnelle, schwere Schritte. Kurz darauf erschien John in der Tür zum Schlafzimmer. Als er Sandy sah, blieb er wie angewurzelt stehen, und sein Gesicht nahm einen verdutzten Ausdruck aus. Er blickte kurz Renee an, dann die Handschellen
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