Ein Kuss unter dem Mistelzweig
wusste sie nicht, wie sie darüber denken sollte.
Vielleicht sollte sie noch ein oder zwei Romankapitel lesen, nur damit sie besser einschlafen konnte, überlegte sie. Sie musterte Lauries Bücherregale. Der große Gatsby und Zwei an einem Tag drängten sich zwischen Vogue -Jahrbüchern und Kunstbänden. Dann entdeckte sie eine abgenutzte Taschenbuchausgabe von Jilly Coopers Reiter , die quer oben auf anderen Büchern lag und an die Rückwand geschoben war; ein glatter Stilbruch in Lauries sonst so minimalistischer Ausrichtung.
Rachel zog das Buch aus dem Regal und lächelte in sich hinein, als die Erinnerungen wach wurden. Laurie und sie mussten damals etwa fünfzehn gewesen sein, in Millys Alter also, als sie den Roman gelesen hatten – alt genug, um es besser zu wissen, und doch noch jung genug, um über unanständige Stellen zu kichern. Laurie hatte es im Regal ihrer Mutter gefunden und es mit in die Schule gebracht, wo sie sich über das Cover amüsiert hatte – eine Frau in einer engen, weißen Reithose, auf deren Gesäß ein Mann seine Hand gelegt hat. Rachel war sich ziemlich sicher, dass es dieselbe Ausgabe war – Laurie hatte sie behalten und die ganze Zeit über gehabt. Damals waren sie immer heimlich in die Mädchentoilette geschlichen und hatten dort zusammen gewisse Abschnitte gelesen. Hatten sie nicht auch ein paar Notizen auf die Innenseite des Covers gekritzelt?
In der Dusche wurde das Wasser abgestellt. Rachel schlug den Buchdeckel auf – sie hatten damals nicht nur die Ecken umgeknickt, sondern jeder Sexszene sogar noch eine Note zwischen eins und zehn verliehen. Sie erinnerte sich daran, wie in den Toilettenkabinen nebenan die Türen geöffnet und kurz darauf wieder ins Schloss gefallen waren, während sie in ihrer eingeschlossen saßen und lasen.
Rachel blätterte durch die Seiten, und ein nostalgisch-sehnsüchtiges Gefühl übermannte sie, als sie die unterstrichenen Passagen sah. Als sie auf der letzten Seite angekommen war, entdeckte sie einen weißen Umschlag, der dort hineingeklemmt worden war. Als sie den Brief herausnehmen wollte, öffnete sich gerade die Badezimmertür. Schnell stopfte Rachel das Buch wieder ins Regal zurück. Sie kam sich wie ein ungezogenes Schulkind vor. Aus irgendeinem Grund hatte sie Mühe, den Roman wieder dorthin zu legen, wo er gewesen war; dabei fiel der Brief heraus und zu Boden.
Sie bückte sich, um ihn dort aufzuheben, wo er gelandet war. Lilafarbene Tinte und handgemalte Herzchen bedeckten die Rückseite des Briefes, und als sie ihn umdrehte, erkannte sie sofort Lauries runde Teenagerschrift, jedes »i« mit einem Kringel versehen. Ihr verschlug es den Atem, als sie las, an wen der Brief gerichtet war: Aiden.
Im Dunkeln lag Rachel neben Aiden im Bett. Mit klopfendem Herzen wartete sie, bis sie endlich hörte, dass seine Atmung tiefer wurde. Ganz langsam hob sie die Decke, kletterte aus dem Bett und kehrte zum Bücherregal zurück. Dort holte sie den Brief hervor, den sie vorhin in Eile dort wieder versteckt hatte.
Sie nahm ihn mit in die Küche, sodass sie ihn bei Licht lesen konnte. Als ihr Blick wieder auf Aidens Namen fiel, versuchte sie sich einzureden, dass es bestimmt eine ganz unschuldige Erklärung dafür geben würde.
Sie schob die Lasche oben zurück und nahm den Brief heraus – zwei linierte DIN - A 4-Blätter, gefüllt mit Lauries Teenagerhandschrift. Diese Schrift war Rachel genauso vertraut wie ihre eigene: Sie hatte Dutzende Nachrichten zugesteckt bekommen und »geheimnisvolle« Valentinskarten mit der gleichen sauberen, runden Handschrift erhalten, meistens sogar in der gleichen lilafarbenen Tinte. Sie überflog die Worte – wobei die Hoffnung immer mehr schwand, dass sie vielleicht falsche, voreilige Schlüsse gezogen haben könnte.
Hi Aiden , las Rachel.
wir haben gerade Erdkunde, und du sitzt direkt vor mir. Mr Evans hat dich gerade getadelt, weil du mit Brandon herumgealbert und auf das Pult gekritzelt hast. Jetzt hast du dich umgedreht, mich angesehen und gelächelt. Ich liebe dein Lächeln; wenn du lächelst, ist alles gleich viel schöner. Ich merke, wie gern du mit mir allein wärst, und ich wäre es auch gern mit dir. Du sitzt beinahe so nah, dass wir uns berühren könnten, doch in diesem Klassenzimmer können wir gar nichts tun – und das macht mich echt verrückt.
Rachel versuchte verzweifelt aufzuhören weiterzulesen, doch das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie konnte den Brief jetzt nicht einfach
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