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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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kaum. Eine Weile saß sie so, beschäftigte sich mit ihrem Körper, versuchte ihn zu spüren, eine Bestandsaufnahme zu machen. Dieses pochende Stechen, das ihren Kopf ausfüllte, schien die einzige Verbindung mit ihm zu sein. Sie konzentrierte sich auf einen Fleck hinter ihren Augen und versuchte sich zu erinnern, wo sie war und wie sie hierher gekommen war.
    Mit großer Anstrengung gelang es ihr, den Kopf zum Fenster zu drehen. Es stand einen Spalt offen. Ein paar abgerissene Blätter klebten auf der Windschutzscheibe, im Hintergrund segelte eine schneeweiße Wolke durch tiefes Blau. Sie sah ihr nach, bis sie über den Fensterrahmen hinaussegelte und aus ihrem Blickfeld entschwand. Ein Blutstropfen rann ihr von der Schläfe und breitete sich scharlachrot auf dem weißen Baumwollstoff ihrer Sommerhose aus. Sie beobachtete ihn interessiert. Mein Lebenssaft. Sie musste lächeln. Welch eine pathetische Beschreibung.
    Blitzschnell schob sich eine kleine schwarze Hand durch den Fensterspalt auf der Fahrerseite, griff in ihre Haare, zerrte und riss. Der Schmerz, der ihr dabei durch den Schädel schoss, weckte sie grob auf. Ihre Glieder gehorchten, sie schlug die Hand beiseite, richtete sich auf. Zwei runde schwarze Augen funkelten sie an, dann stob der junge Pavian höhnisch kreischend davon. Jetzt hörte sie auch wieder die Brandung, die rhythmisch an den Strand rauschte, Motorengeräusch, das näher kam. Als sie leidlich sicher war, dass ihre Beine sie tragen würden, stieg sie aus. Eine Woge von Übelkeit und Schwindel schlug über ihr zusammen, schwarze Pünktchen tanzten vor ihren Augen, der Boden unter ihr schwankte, als wäre sie völlig betrunken. Sie torkelte vorwärts, wartete, bis die schwarzen Pünktchen langsam verblassten, und machte einen Schritt auf die Fahrbahn. Den herannahenden Laster übersah sie.
    Ein Motor röhrte, Bremsen jaulten, Reifen quietschten nervenzerfetzend über den Asphalt. Sie fuhr herum. Ein Zuckerrohrtransporter, ein riesiges Ungetüm von einem Sattelschlepper rutschte mit der Breitseite auf sie zu. Er war rot und füllte ihr gesamtes Gesichtsfeld. Schon spürte sie die Druckwelle. Gleich würde es vorbei sein.
    Aber es war nicht vorbei, es kam anders. Etwas in ihr entschied sich für das Leben. Mit einem Hechtsprung schnellte sie auf die andere Straßenseite, landete im Gras auf der Böschung, rollte ein paar Meter über dorniges Gestrüpp den Abhang hinunter und blieb am Stamm einer wilden Banane hängen. Grässliches Kreischen von reißendem Metall erfüllte die Luft, dann ein dumpfer Aufprall. Gebannt starrte sie auf die Böschungskante über ihr. Langsam, aber unaufhörlich schob sich die Schnauze des Zuckerrohrtransporters in ihre Sicht, bis er den Himmel über ihr verdunkelte. Er neigte sich ihr zu, schwankte ein paar Mal hin und her und stand. Keine drei Meter über ihr hing der Laster, ein Rad ohne Bodenberührung. Sie atmete durch, lockerte ihre zum Sprung gespannten Muskeln.
    Die Tür flog auf, ein Mann, kreidebleich im Gesicht, die Augen irr aufgerissen, kletterte herunter. Für Momente hielt er sich am Vorderrad seines Gefährts fest, als traute er sich nicht, ohne Hilfe zu gehen. Er sah sich um. Als sein Blick sie erfasste, ließ er los, sprang die paar Schritte zu ihr hinunter, baute sich vor ihr auf. »Sind Sie lebensmüde?«, brüllte er. »Wollen Sie sich umbringen?«
    Ruhig sah sie ihn an. Wollte sie das? Noch einmal durchlebte sie die letzten paar Sekunden, sah den riesigen Lastwagen auf sich zuschleudern, und wie vorhin spürte sie den übermächtigen Impuls, sich zur Seite zu werfen, sich in Sicherheit zu bringen. Langsam rappelte sie sich auf. Alle Knochen taten ihr weh, ihr Kopf summte wie ein Bienenstock, aber ihr Blick war klar. Jeden Grashalm, jedes Blatt, die Fliege auf einem Blutfleck auf ihrer Hand, ihre schillernden Augen, alles sah sie überscharf, auch ihre Entscheidung da oben. Sie war im Kern ihres Seins entstanden, ohne den Filter ihrer Trauer und Sehnsüchte. Instinktiv, ohne nachzudenken. Sie wollte leben.
    Sie sagte es ihm. »Nein, das wollte ich nicht, ganz sicher nicht.«
    »Was ist passiert?«, fragte der Lastwagenfahrer. »Sie sind ja verletzt! Soll ich einen Krankenwagen rufen?« Er reichte ihr seine Hand, sie schloss sich kalt und schweißnass um ihre, und zog sie die Böschung hoch. Er war ein älterer Mann mit tiefen Magenfalten rechts und links der Nase und gelblichen Augäpfeln. Seine Hände flogen, als er sich eine Zigarette ansteckte.

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