Ein Land, das Himmel heißt
Er hielt ihr die Packung hin, schnippte eine Zigarette heraus. »Wollen Sie auch eine?«
»Nein, danke«, sagte sie artig. »Es tut mir Leid, Sie so erschreckt zu haben.« Sorgfältig zupfte sie ein paar Kletten ab, die sich in den Fasern ihres Pullovers verfangen hatten.
»Das übersteh ich«, brummte der Mann zwischen zwei Zügen, »aber was ist damit?« Er zeigte auf den Anhänger, der quer zur Fahrbahn stand, und den Haufen Zuckerrohr, unter dem ihr Auto begraben lag.
Über das Mobiltelefon des Lastwagenfahrers rief sie Martin und die Polizei an. Dann setzte sie sich auf den Felsen, der noch die Spuren ihres Aufpralls trug, und wartete. Allmählich begriff sie, dass sie fast dieses Leben verlassen hatte, einfach so.
»Das Leben ist schön und kostbar, keiner hat das Recht, es wegzuwerfen«, hatte Mama gesagt, die Erinnerung an Zärtlichkeit und Wärme stieg in ihr hoch, und der Schmerz war wieder da, links, unter dem dritten und vierten Rippenbogen, und dann kamen die Tränen. Sie legte den Kopf auf die gekreuzten Arme und weinte vor Scham über ihre Schwäche.
Martins Geländewagen schoss um die Kurve, bremste hart, lose Steinchen spritzten wie Schrotschüsse gegen das Blech des Lasters. Bevor der Wagen ganz hielt, sprang Angelica heraus und rannte auf sie zu. »Mein Gott, Jill, bist du verletzt, ist der Krankenwagen unterwegs? Du musst sofort ins Krankenhaus! Martin, hilf mir hier. Wir müssen sie irgendwo hinlegen!«
»Liebling, kannst du mich verstehen?«, schrie Martin sie an, als spräche er mit einer, die entweder vollkommen taub war oder mit Drogen vollgepumpt oder schwachsinnig.
Jill trocknete verstohlen ihr Gesicht. »Ich versteh euch ausgezeichnet. Ich brauche weder einen Krankenwagen, noch möchte ich mich hinlegen. Bis auf die paar Kratzer geht es mir gut.« Ihre Stimme klang so normal, als würde sie eine Einkaufsliste ablesen.
Es riss Martin und Angelica die Köpfe herum. Zum ersten Mal schienen sie sie wirklich zu sehen. »Dir geht es gut?« Martin streckte die Hand aus, wollte sie berühren, zog sie zurück und machte eine hilflose Geste, die das Chaos vor ihnen einschloss.
Sie stand auf und bürstete Grashalme, Staub und Zuckerrohrhalme von ihrem schwarzen Pullover ab. »Es geht mir gut, wirklich. Ich möchte mich entschuldigen, dass ich mich so habe gehen lassen. Es war feige. Es wird nicht wieder vorkommen.« Als sie neben Martin zum Auto ging, waren ihre Schritte fast wie früher, lang und schwingend, und ihre Schultern gestrafft. Sie spürte keine Müdigkeit, körperlich nicht und seelisch auch nicht. Eine ungekannte Energie trieb sie vorwärts, ihr Blut pulste bis in die Fingerspitzen, rötete ihre Wangen, und in ihren Augen glänzte das Blau des Himmels.
Auf der Fahrt nach Hause fing sie die heimlichen Blicke ihres Mannes und ihrer Freundin auf, die tiefe Verwirrung ausdrückten. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist mit dir?« In Angelicas Stimme schwangen Unsicherheit, Ungläubigkeit und Nervosität.
»Es geht mir gut, wirklich«, erwiderte sie und erklärte ihnen, was passiert war. »Wenn ich mich tatsächlich hätte umbringen wollen, wäre ich nicht zur Seite gesprungen. Ich werde es schaffen«, setzte sie hinzu und meinte ihr weiteres Leben.
Und sie schaffte es.
*
Bis spätnachts saß sie mit Irma und Martin zusammen und redete. Zum ersten Mal redete sie. Über Mama, Tommy und ihren Vater … nicht über Christina. Die Worte flossen aus ihr heraus wie Eiter aus einer Wunde, und allmählich nahm der Druck ab, ihr Atem ging freier. Die Zeit des Heilens hatte begonnen.
»Ihr werdet wieder ein Baby haben.« Irma streichelte sie. »Ihr seid beide noch so jung. Solche Dinge passieren. Es ist ein Unfall gewesen, nicht irgendein körperlicher Defekt.«
Mit gesenktem Kopf ließ sie die Worte über sich ergehen. Es waren die Worte, die alle gesagt hatten, immer wieder. Natürlich hatten sie Recht. Aber so stark war sie noch nicht. »Das wird noch Zeit brauchen«, sagte sie, wählte mit Bedacht diese neutrale, Abstand gebietende Antwort, »wir werden nichts überstürzen.« Dabei legte sie ihre Hand auf Martins, machte klar, dass niemand in diesen privaten Bereich eindringen durfte.
Noch einmal würde sie nicht ertragen können, dass ein Kind in ihr heranwuchs – seine Bewegung zu spüren, es so gut zu kennen, als hätte sie es schon in den Armen gehalten –, um es dann wieder zu verlieren. Dann würde Martin wieder mit diesem leeren Ausdruck an ihrem Bett stehen, sie
Weitere Kostenlose Bücher