Ein Land, das Himmel heißt
würde seine klammen Hände auf ihrer Haut fühlen. Die Erinnerung daran war ein körperlicher Schmerz. Sie fror, wie sie es getan hatte, als sie nach Christinas Tod in seine leblosen Augen blickte, die sie nicht wahrzunehmen schienen. Er hatte sich in sein Innerstes zurückgezogen, vor ihr stand nur noch seine äußere Hülle. »Wir brauchen Zeit«, wiederholte sie. Wenn ich um Christina weinen kann, endlich über sie reden kann, dann vielleicht. Vielleicht.
Irma fuhr eine Woche später zurück nach Kapstadt. »Ruf mich sofort an, wenn du mich brauchst, hörst du? Ich kann in wenigen Stunden bei dir sein.« Sie trug noch immer Schwarz, dazu einen wagenradgroßen schwarzen Strohhut, der ihr Gesicht geheimnisvoll beschattete. »Es gibt mir ein wunderbar verruchtes Aussehen, findest du nicht? Außerdem sieht man die Falten nicht so«, lächelte sie ironisch. »Seitdem ich so stark abgenommen habe, sehe ich aus wie eine vertrocknete Pflaume.«
Jill schlang ihre Arme um den Hals ihrer Tante und hielt sie lange fest. »Danke für alles«, murmelte sie, »ich weiß nicht, wie wir es ohne dich hätten schaffen sollen.« Mit einem Finger fuhr sie die tiefen Lachfältchen um die Augen der älteren Frau nach. »Ich bin sicher, dass jede einzelne mir eine Geschichte erzählen könnte. Du hast sie dir verdient.«
Irma verdrehte die Augen. »So etwas kann auch nur jemand sagen, der erst anfängt zu leben. Meine Erfahrungen möchte ich nie missen, ohne sie könnte ich nicht schreiben. Aber sie müssen mir ja nicht gleich als Runen ins Gesicht geschrieben stehen.«
Jill lachte immer noch, als Irma schon in einer Staubwolke entschwunden war.
*
Am nächsten Morgen sprang sie energiegeladen schon um sechs Uhr aus dem Bett. Martin stand noch unter der Dusche. Seit mehr als einer Stunde hatte sie wach gelegen und über ihr Leben nachgedacht, nicht über das, was vergangen war, sondern das, was noch vor ihr lag, und war zu einem Entschluss gekommen.
»Ich brauche etwas zu tun«, sagte sie ihm, als sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zusammen auf der Terrasse frühstückten. »Ich muss wieder ins Leben zurückkehren. Ich werde dir den Papierkram für die Farm abnehmen, und ich möchte ein Projekt mit Nelly und den anderen Frauen aufziehen. Sie stellen wunderbare Perlarbeiten her, und ich möchte sie verkaufen, vielleicht sogar nach Übersee. Das gibt ihnen und vielleicht auch mir ein zusätzliches Einkommen. Was sagst du dazu?« Sie goss sich einen Kaffee ein, hielt ihre Kaffeetasse in beiden Händen, beobachtete ihn über den Rand. Ihre Augen strahlten. »Irgendwann werde ich mir auch wieder meine Doktorarbeit und das Vogelbuch vornehmen.«
»Perlarbeiten.« Seine Miene war skeptisch, als sei es für ihn schwer vorstellbar, dass ein solches Unterfangen von Erfolg gekrönt sein könnte. »Ja, nun, wenn du dazu Lust hast, warum nicht? Das mit dem Papierkram …«, er zögerte. »Ehrlich gesagt, ist es einfach zu zeitraubend, dich einzuarbeiten. Es geht schneller, wenn ich das nebenbei erledige. Ich hab zu viel um die Ohren. Meine Arbeit am Vergnügungspark, die Erntearbeiten, die Saat fürs nächste Jahr, den Verkauf. Ich muss mir überlegen, ob wir noch andere Früchte außer Ananas anbauen sollten, wir brauchen das Geld.« Sein Blick streifte sie, doch rutschte gleich wieder ab.
Sie registrierte diesen Blick, maß ihm aber keine Bedeutung bei, fand nur, dass er müde und abgekämpft wirkte. Nach dem Frühstück lief sie den Weg hinunter ins Dorf. Da es Sonntag war, würde sie die Frauen zu Hause antreffen und nicht auf dem Feld.
Der Weg lag tiefer als das umliegende Land, wand sich als roter Schnitt durch den wuchernden Busch. Er war nicht sehr breit, und jetzt, kurz vor Sommerbeginn, glühten die Blüten der Flammenbäume zwischen jungem Grün, rote Krönchen wippten an den Zweigenden der Korallenbäume. Die Frauen saßen unter dem ausladenden Natal-Mahagonibaum, dem Indaba-Baum des Dorfes, unter dem das gemeinsame Leben der Bewohner stattfand, schwatzten und lachten miteinander. Die älteren Frauen um Nelly, die in ihrer Mitte mit dem Rücken am Baumstamm lehnte, trugen die traditionelle Kopfbedeckung der verheirateten Frauen, einen Hut mit breitem Rand aus Stroh, der fest mit dem Haar verflochten war, und Röcke aus steifem Rindsleder. Einige stickten Perlbänder, andere flochten Körbe. Eine junge Frau nährte ihr Baby. Kleine Kinder rannten zwischen ihnen herum, spielten mit Autos, die sie aus Draht gebastelt
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