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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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war weg.
    »Bleib hier, ich bin noch nicht fertig!« Sie sprang auf, rannte hinter ihm her, stolperte über die Scherben und fiel hin. Ein scharfer Schmerz lenkte sie von ihm ab. Ihr Knie blutete. »Scheiße«, fluchte sie, beugte sich hinunter, um den Splitter herauszuziehen, doch da hörte sie Hufgeklapper vom Hof. Sie vergaß den Schmerz, rannte durchs Haus zum Eingang. »Bleib hier«, schrie sie, so laut sie konnte, »bist du verrückt, du kannst doch nachts nicht ausreiten – das ist viel zu gefährlich, du siehst doch nicht die Hand vorm Gesicht … Martin, bleib hier … bitte … bitte …!« Sie rannte ins Freie.
    Aber das Trommeln der Hufe verlor sich in der Dunkelheit, die Nacht verschluckte ihn, und sie blieb allein zurück.
    Martin hatte die automatischen Scheinwerfer ausgelöst, die jetzt einer nach dem anderen wieder erloschen, bis sie allein im Vollmondlicht mitten auf dem Hof stand, um sie herum Wispern, Rascheln, schattige Bewegungen. Büsche und Bäume, bizarre schwarze Wesen im milchigen Licht, griffen mit langen Armen nach ihr. Angst rann eiskalt durch ihre Adern. Um ihn. Um sich selbst. Um ihre Liebe.
    Sie warf den Kopf zurück und heulte den Mond an wie ein zu Tode verwundetes Tier.

10
    E s war diese kurze Spanne, dieser silbrige Augenblick zwischen gestern und heute, nicht mehr Nacht, aber noch nicht Morgen, in dem alles noch möglich war. Sie meinte sogar, seine warme Nähe zu spüren, seinen Atem zu hören, diese beruhigende Hintergrundmusik ihrer Nächte. Instinktiv wollte sie die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren, ihn bitten, komm zu mir, nimm mich in den Arm. Aber sie tat es nicht, sie wusste, sie würde ins Leere greifen, und sie wusste, dass sie das nicht ertragen könnte. Sie hielt die Augen weiter geschlossen, wollte glauben, dass sie ihn nicht verloren hatte, ihr Leben so war, wie es sein sollte. Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen, entspannte ihre Muskeln, einen nach dem anderen. Wärme strömte in ihre Glieder, machte sie leicht, ihre Gedanken schwammen davon, sie trieb im warmen Meer ihrer Gefühle dahin.
    Fast gelang es ihr, der Wirklichkeit zu entwischen. Sie spürte seine Gegenwart neben sich, hörte seine Schlafgeräusche. Schon schien alles gut, schon war sie sich sicher, dass das andere der Traum gewesen war. Ihre Lippen bogen sich in einem glücklichen Lächeln, sie seufzte. Doch als sie eben in die Bewusstlosigkeit des Schlafes hinüberglitt, zerriss ein Geräusch, schrill wie das irre Gelächter eines Betrunkenen, urplötzlich ihren Traumvorhang, und sie fuhr hoch.
    Ihr Herz jagte, es dauerte Sekunden, ehe sie die heiseren Weckrufe der Hagedasch-Ibisse erkannte. Fluchend wühlte sie sich unter dem Moskitonetz hervor, stürzte zum Fenster und spähte ins Perlmuttlicht des beginnenden Tages. Zwei der reihergroßen Ibisse, die sich auf einem Baum vor ihrem Schlafzimmer niedergelassen hatten, starrten sie mit unverschämten Knopfaugen an. Sie stieß das Fenster auf und warf eine Sandalette nach ihnen, die in den Gitterstäben des Einbruchsschutzes hängen blieb.
    Die Vögel breiteten ihre metallen schimmernden Flügel aus. »Ha-ha-hadida«, lachten sie höhnisch und glitten davon.
    »Ha-ha-hadida!«, spottete sie hinter ihnen her. Wütend über die frühe Störung rüttelte sie grob am Gitter. Es knirschte, bewegte sich in seiner Verankerung, brach an einer Stelle weg. »Verdammt«, sagte sie halblaut und kratzte verdrossen an der rostzerfressenen Bruchstelle. Die weiße Farbe löste sich in Stücken, legte die Zerstörung, die ständige Feuchtigkeit und tropische Hitze verursacht hatten, frei. Das Haus fiel um sie herum zusammen, und sie hatte kein Geld, den Zerfall aufzuhalten. Grübelnd drehte sie an ihrem Verlobungsring. Er saß lose dieser Tage.
    Zu viele Sorgen, zu wenig Schlaf, dachte sie, und dieser Schmerz, der nicht aufhören wollte. Erst Christina und Mama und dann noch Martin. Der Schmerz war körperlich, wie eine schwere Verwundung. Sie hatte sich kaum aufrecht halten können in den ersten Tagen nach Martins Tod, ging gekrümmt, bekam kaum Luft. »Als hätte mir jemand das Herz herausgerissen«, sagte sie zu Angelica, »als wäre nur ein großes, blutiges Loch zurückgeblieben. Leer … einfach nur leer.«
    Sie hob die Hand mit ihrem Verlobungsring ins Morgenlicht. Der große Diamant sprühte Feuer. »Jeder soll sehen, wie ich dich liebe«, hatte er gesagt, als er ihr den Ring angesteckt hatte. Er hatte für den Ring einen großen Kredit

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