Ein Land, das Himmel heißt
ihr Büro verließ. Gut so. Sie war sich sicher, dass er Len und Leon diesen Satz übermitteln würde.
Minutenlang stand sie am offenen Fenster, nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, war zufrieden mit sich. Die Angst vor den großen Jungs war verschwunden. Sie hatte die Spielregeln gelernt. Ihre Gedanken liefen zurück in ihr früheres Leben, zu der Jill, die sie einmal gewesen war. Zu der verwöhnten Tochter aus wohlhabendem Haus, die ein sorgenfreies Leben in einem Land führte, das dem Paradies am nächsten kam, ausgestattet mit Privilegien, wie nur wenige sie hatten. Wie wäre sie wohl geworden, hätte das Leben sie nicht gebeutelt? Hatte sie Tommys Mord ertragen, Mamas und Christinas Tod erleben müssen, den Unfall Martins, nun den Überfall auf Inqaba und die Nacht danach, als sie glaubte, dass auch Irma tot und sie ganz allein wäre? Hatte sie den Schmerz, die Enttäuschung erleben müssen, die ihr Nils zugefügt hatte, um sich selbst kennen zu lernen? Dann war heute der Tag, an dem sie sich gefunden hatte. Als hätte das Leben alles Überflüssige weggeschält, bis auf den Kern, so fühlte sie sich. Ihr gefiel das, was zum Vorschein gekommen war. So bin ich also, dachte sie. Jetzt kann ich mich auf mich verlassen. Ein gutes Gefühl.
Dann sah sie auf die Uhr. Schon halb zwei. Um vier Uhr würde sie Irma besuchen. Sie hatte heute schon früh mit dem Arzt gesprochen, der ihr mitteilte, dass ihre Tante dank einer erstaunlich robusten Konstitution die besten Chancen hätte, wieder gesund zu werden. Natürlich nur, falls keine unvorhergesehenen Komplikationen eintreten würden, und es müsse garantiert sein, dass sie sich für ein paar Monate absolut ruhig hielt. Jill musste lächeln. Das würde ein Problem darstellen. Irmas Dickkopf reichte an den von Oskar heran.
Jetzt hatte sie noch eine Stunde Zeit. Einem plötzlichen Impuls folgend, schloss sie ihre Tür ab, zog den Telefonstecker aus der Wand und setzte sich, mit einem Block auf den Knien, vor das Fenster, legte ihre Beine auf das kniehohe Fensterbrett und machte sich daran, das Gewirr der Probleme, denen sie gegenüberstand, zu Papier zu bringen, um klarer zu sehen.
Da war Leon, der unter Anklage stand, aber vor der Wahrheitskommission aussagen würde, um seine Haut zu retten, und das würde ihm mit ziemlicher Sicherheit gelingen. Verglichen mit anderen Schergen des Apartheid-Regimes war er ein winziger Fisch. Die Mitschuld an dem Flugzeugabsturz, der ihre Mutter und über hundert andere Menschen das Leben gekostet hatte, würde nicht reichen, ihn hinter Gitter zu bringen. Das hieße, dass er sie weiter belagern würde. Leon, der Vater der Kunene-Zwillinge.
Len Pienaar. Durch seine Bombe war Mamas Flugzeug abgestürzt, er hatte versucht, Inqaba an sich zu reißen, war eine außerordentlich zwielichtige Gestalt, hinter der mit Sicherheit mehr steckte, als ihr bekannt war. Sie dachte an das Buch, das Nils gekauft hatte, konnte sich an den Titel aber nicht erinnern und nahm sich vor, in der Buchhandlung von Mtubatuba nachzufragen. Vielleicht würde sie daraus Näheres erfahren. Die Möglichkeit, dass Len sich mit einer Entschuldigung seine Freiheit erkaufen konnte, war gering. Die Hoffnung, ihn bald los zu sein, war gegeben.
Den Gedanken an Nils blockierte sie, war stolz, dass es ihr gelang, ohne Herzklopfen zu bekommen.
Popi und seine Leute hielt sie für die Veranwortlichen an den Überfällen auf die Farrington-Farm und Inqaba. Die fast den Tod von Irma auf dem Gewissen hatten. Popi, der Rattenfänger, der allem Anschein nach mit seinen Leuten illegal auf ihrem Land siedelte, ihr mit Thandi dieses Land wegnehmen wollte, der lächerlicherweise behauptete, dass Johann Steinach schuld daran gewesen sei, dass Mpande es ihrem Vorfahren weggenommen hatte. Popi, der als Junge eine kleine Katze erwürgt hatte. Nachdenklich kaute sie auf ihrem Filzstift. Konnte man ihm die Überfälle nachweisen, wäre sie auch dieses Problem los.
»Popi war es nicht, glaub mir.« Ehe sie es verhindern konnte, drängte sich Nils wieder in ihre Gedanken. »Ich brauche nur noch ein oder zwei Tage, um es zu beweisen. Warte so lange, bis du einen Sicherheitsdienst engagierst.«
Energisch brachte sie ihn zum Schweigen. Er hatte ihr Vertrauen missbraucht, ihre Liebe getötet, so endgültig, als hätte er ihr ein Messer in den Rücken gerammt.
Eine halbe Stunde lang starrte sie auf das Geschriebene. Die Gesichter von Len Pienaar, Leon Bernitt, Popi, Thandi, alle
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