Ein Land, das Himmel heißt
habe vergessen, es zu öffnen.« Damit lief sie schon den Gang hinunter, stieß die Tür zu ihrem Büro auf und begann zu suchen. Erst als sie aus Versehen einen Stapel mit dem Ellbogen vom Tisch stieß, fand sie es. Es war an sie persönlich adressiert, und jetzt gerieten die Schmetterlinge im Bauch außer Rand und Band.
Die Adresse war in der Schrift von Nils Rogge, und das musste sie gestern nur im Unterbewusstsein registriert haben, bevor sie das Päckchen achtlos zur Seite legte. Der Adrenalinstoß, der sie traf, brachte ihr Herz zum Stolpern. Zitternd fetzte sie das Papier herunter, bis sie eine Videokassette in Händen hielt. Sie trug eine Aufschrift.
»Sieh es dir an.«
Nur diese vier Worte. Keine Unterschrift. Aber sie waren eindeutig von Nils. Die Kassette in der Hand, stürzte sie zum Fernseher, schob sie in den Videorecorder und drückte den Startknopf. Das Logo von Nils’ Sender flimmerte über den Bildschirm, als ihr auf einmal die Bedeutung dessen klar wurde, dass sie das Päckchen per Post bekommen hatte. Inlandpost. War Nils noch in Südafrika? Sie schaltete den Apparat aus. Mit einem Satz war sie am Papierkorb, kippte ihn um und setzte mit fliegenden Händen die Papierfetzen des Umschlags zusammen, um zu sehen, ob sie den Poststempel entziffern konnte.
»Mtu …«, las sie und fiel auf ihren Schreibtischstuhl. Mtubatuba. Der Stempel war vom Sonnabend, er musste die Videokassette, unmittelbar nachdem sie ihn hinausgeworfen hatte, in die Post gegeben haben. Ihr Herz hämmerte. Sie durchsuchte ihr Gehirn nach jedem Fitzchen Erinnerung an das, was Nils gesagt hatte. Axel wollte am Mittwoch in den Kongo fliegen. Von Johannesburg aus. Heute war Mittwoch. Nils aber hatte noch zwei Monate Zeit, bevor er die Stelle als Afrikakorrespondent übernehmen würde. Würde er jetzt den Auftrag im Kongo doch zusammen mit Axel machen? Ja, dachte sie, das sähe ihm ähnlich. Abstand gewinnen, einen neuen Auftrag zwischen sich und seine Gefühle schieben.
Dann würde er heute das Land verlassen. Ein rascher Blick auf die Schreibtischuhr sagte ihr, dass es halb neun war. Sie sprang auf, hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, den Film anzusehen, und der Eile, die geboten war, wenn sie ihn noch am Flughafen erwischen wollte. Wenn das überhaupt möglich sein sollte. Vielleicht befand er sich längst in Johannesburg. Oder Kapstadt. Oder schon wieder in Deutschland. Sie schaute zum Videorecorder. Vielleicht gab der Film ihr die Antwort? Sie drückte den Startknopf, hockte sich davor auf den Boden. Als seine Stimme plötzlich den Raum füllte, wurden ihr die Knie weich. Energisch rief sie sich zur Ordnung.
Als Erstes flimmerten die Bilder der Elendshütten über den Bildschirm, die sie auf Axels Monitor gesehen hatte. Dieselben stumpfen Gesichter, die im Dreck spielenden Kinder, die aus Wellblechstücken, zerbrochenen Holzbrettern und flatternden Plastikplanen zusammengeschusterten Bruchbuden. Das Lager der illegalen Landbesetzer auf Inqaba! Wieder regte sich Wut und Enttäuschung in ihr, überlagerten die Emotionen, die seine Stimme bei ihr auslösten.
Sie lehnte sich vor, als könnte sie so besser sehen. Als Nächstes erwartete sie, Popis Leute, brüllend und Waffen schwingend, zu sehen, aber sie irrte sich. Die Kamera blieb auf den Blechhütten, nur die Einstellung änderte sich, der Bildausschnitt wurde größer. Im Hintergrund, unscharf, aber erkennbar, entdeckte sie einen Wasserturm. Der Anblick traf sie hart, denn jetzt wusste sie, wo diese Aufnahmen gemacht worden waren. In den Hügeln hinter Umhlanga Ridge wuchsen diese Hüttenlager wie Pocken auf dem Gesicht der Landschaft, marschierten unaufhaltsam auf die Küstenvororte zu. Der Wasserturm stand auf dem höchsten Punkt des Vororts Red Hill, der entlang dem Hügelrücken, der sich bis zur Stadt hinzog, gebaut war. Das Lager musste in einiger Entfernung von Red Hill sein, und damit mehrere Kilometer von Umhlanga Rocks entfernt. Über zweihundert Kilometer von Inqaba.
Sie hatte sich geirrt. Zumindest in diesem Punkt hatte sie Nils Unrecht getan. Mit einem sinkenden Gefühl im Magen wartete sie auf die nächsten Bilder. Popi und seine Leute traten auf, aber in einem völlig anderen Zusammenhang. Die Szene, die sie auf dem Monitor der Reporter gesehen hatte, Popi und seine Zulus, Kampfstöcke schwingend und »Bulala amaBhunu« brüllend, kam nicht vor. Dafür liefen die Bilder des tatsächlichen Überfalls auf Inqaba über den Bildschirm. Nils
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