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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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worden. Die nächste würde um 18 Uhr abheben, und das war zu spät, um den Auslandsflug zu erreichen. Er hatte Durban mit großer Wahrscheinlichkeit schon frühmorgens verlassen oder würde jetzt gleich starten.
    Dumpfe Müdigkeit senkte sich über sie. Ein paar Minuten lang hockte sie zusammengesunken auf dem Drehstuhl, sah keinen Ausweg. Aber aufgeben würde sie erst, wenn keine Hoffnung mehr bestand. Es gab die sehr entfernte Möglichkeit, dass er sich noch in Umhlanga Rocks befand. Entschlossen sprang sie auf, wechselte in Windeseile ihre Shorts und das ärmellose T-Shirt gegen ein schwarzes, rückenfreies Kleid mit schwingendem Rock und Trägern, die im Nacken gebunden wurden, machte sich eilig ein wenig zurecht. Falls sie ihn wirklich noch erwischen sollte, wollte sie wenigstens nicht verheult aussehen. Dann rannte sie zum Wagen.

21
    N un stand sie schon eine Weile reglos am Rande des Indischen Ozeans, fühlte nicht, sah nicht, hörte nicht. Wusste nicht mehr, wie sie hierher gekommen war, erinnerte sich nicht, was diesem Moment vorausgegangen war. Ihr Inneres war aus kaltem Stein. Eine Ewigkeit hatte sie ihn gesucht, hatte die Empfangsdame der Kingfisher Lodge ausgefragt, die Hotels und Cafés des Ortes abgeklappert, bis sie endlich seine Spur fand, und dann war es um Minuten gegangen, und sie hatte ihn verpasst. Er hatte sich ein Auto gemietet, war schon auf dem Weg nach Johannesburg und von dort aus irgendwohin ins schwarze Herz Afrikas. Er war fort. Endgültig.
    »Du hast Recht gehabt, es tut mir Leid, bitte verzeih mir.« Das wollte sie ihm sagen. Aber nun war es zu spät.
    Für immer, klang es in ihr nach, und eine Gänsehaut kräuselte ihre bloße Haut, denn erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie ihm eigentlich sagen wollte. »Ich liebe dich«, wollte sie ihm sagen, »bitte bleib bei mir, ich kann ohne dich nicht leben.«
    Ein junges Paar schlenderte eng umschlungen in der seichten Gezeitenzone an ihr vorüber. Sie hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Sie lachten sich an, und auf ihren Gesichtern lag das Strahlen von Menschen, die ihre Liebe gefunden haben. Der Schmerz, der Jill bei diesem Anblick durchfuhr, nahm ihr fast den Atem. Wie konnte es noch Liebe geben, die Sonne so strahlend scheinen und der Himmel so unglaublich blau sein, wenn ihr Leben gerade seinen Sinn verloren hatte?
    Bis zu den Knien stand sie jetzt im Wasser. Sie schwankte, fühlte sich erschreckend schwach, als hätte ihr Körper alle Substanz verloren. Mit Nils hatte sie auch ihre Widerstandskraft verlassen, die sie alle Schicksalsstürme der letzten Jahre überstehen ließ. Immer hatte sie sich wieder aufgerichtet. Der Sturm aber, den ihr Streit mit Nils ausgelöst hatte, war zu stark gewesen. Die Last Inqabas, der Verwaltung des riesigen Gebietes, der Beziehungen zu den Menschen, die darauf lebten, und der Natur, die so grausam sein konnte, würde sie jetzt allein tragen müssen.
    Ich kann nicht mehr, dachte sie, es ist zu viel. Die Wellen zerrten mit Macht an dem weiten Rock ihres schwarzen Trägerkleides. Dem starken Sog hatte sie nichts mehr entgegenzusetzen, alle Kraft schien zu weichen.
    »Komm«, lockten sie, »komm mit uns, wir tragen dich.«
    Sie machte ein, zwei Schritte vorwärts, das Wasser stieg ihr bis zur Taille. Aus und ein, aus und ein, atmete sie, aus und ein, und eine übermächtige Gleichgültigkeit überkam sie, der hypnotische Rhythmus der Wellen löschte jedes Gefühl für ihren Körper aus. Ihre Hand, die das Mobiltelefon hielt, öffnete sich ohne ihren Willen, sie ließ es einfach fallen. Es versank im Wasser, schwänzelte in die Tiefe wie ein silberner Fisch. Die nächste Woge hob sie liebevoll hoch, bauschte ihren Rock. Sie ließ es mit sich geschehen. Wie eine schwarze Rose trieb sie weiter hinaus aufs Meer, bis die Strömung sie auf dem trügerisch sicheren Boden einer Sandbank absetzte. Die Farbe des Wassers wechselte an ihrem Rand in das geheimnisvolle Blau großer Tiefe.
    »Komm«, seufzten die Wellen, »komm, lass dich fallen, hier ist es still, hier wird der Schmerz vergehen.«
    Eine große Woge von gläserner Schönheit türmte sich vor ihr auf, rauschte heran, ihre Krone schäumte weiß, sie neigte sich, öffnete ihren Schlund, um sie zu verschlingen. Jill sah ihr entgegen, konnte sich nicht rühren, hörte nicht die Rufe der Schwimmer.
    Vor einer Sandbank entstehen in den Wasserschichten gegenläufige Strömungen, kreuzen sich die Wellen, bilden sich gefährliche Strudel. So auch jetzt.

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