Ein Land, das Himmel heißt
Von zwei Seiten liefen Wellen auf sie zu, die große verschlang die kleinere, der Wellenberg brach sich über ihr, und die Unterströmungen zogen sie hinunter, weit hinunter in die grüne Stille. Unbewusst hielt sie die Luft an und ließ mit sich geschehen, was geschah. Der Mahlstrom warf sie herum, schneller und immer schneller, wie eine gigantische Zentrifuge. Helle Lichtreflexe blitzten hinter ihren Lidern, sie verlor das Gefühl für ihren Körper, dröhnende Leere blockierte ihre Ohren und ihr Bewusstsein. Körperlos wirbelte sie dahin, bestand nur noch aus Licht und verführerischer Leichtigkeit.
Plötzlich aber spuckte der Strudel sie aus. Sie schoss durch die sprudelnden Wasserschichten an die Oberfläche, wurde gegen einen Schwimmer geschleudert, der sich strampelnd von ihr zu befreien versuchte, sie dabei wieder und wieder unter Wasser stieß und ihr so das letzte Restchen Luft aus dem Körper prügelte. Der Wucht seiner Tritte erschütterte sie wie die Stöße eines Erdbebens und weckte sie endlich auf. Ihr Atemreflex setzte wieder ein. Hustend kämpfte sie um Sauerstoff, schluckte Unmengen Salzwasser, ruderte mit der verzweifelten Kraft ihres wiedererwachenden Lebenswillens mit Armen und Beinen – und blieb oben. Die nächste Welle hob sie noch einmal hoch, ganz hoch, und für einen Moment lag das Küstenpanorama vor ihr, die weißen Hotelgebäude, davor die Promenade, die sich durch das Ufergrün wand, das goldene Band des Strandes, die bunte, quirlige Urlaubermenge, und in diesem Moment sah sie ihn.
Sein Jackett über die Schulter geworfen, ging er mit langen Schritten durch die Menge. Die kurz geschnittenen sonnengebleichten Haare leuchteten, seine arrogante, aufrechte Haltung, mit der er sich seinen Weg durch die Osterurlauber bahnte, war unverkennbar. Für Sekunden setzte ihr Atem aus.
Dann schrie sie seinen Namen, ihr ganzes Leben legte sie in diesen Schrei, aber der Wind riss ihn ihr vom Mund. Ihr Ruf zerplatzte wie eine Seifenblase, und sie fiel ins nächste Wellental, wurde aufs Neue wie in einer Zentrifuge herumgeworfen. Prustend kämpfte sie sich an die Oberfläche. Wassertretend, immer wieder seinen Namen rufend, versuchte sie, mit der nächste Welle näher ans Land zu gelangen, aber ihr Rock verknotete sich zwischen ihren Beinen und verhinderte jede Schwimmbewegung. Wassermassen schlugen über ihr zusammen, sie wollte schreien, ein salziger Wasserschwall füllte ihren Mund.
»Haben Sie Probleme?«, schrie eine Jungenstimme. »Sie sehen aus, als brauchten Sie Hilfe!« Ein rotes Surfbrett tauchte neben ihr auf, und ein verwegener junger Kerl lachte auf sie hinunter. »Hängen Sie sich hinten dran!« Er hatte Augen so klar wie das Wasser und ein offenes Lachen.
Keuchend packte sie das Brett, hustete, rang nach Luft. Immer noch hustend glitt sie an dem Surfbrett nach hinten und hielt sich mit den Händen links und rechts fest. Der Junge hockte auf den Knien, spähte über seine Schulter und wartete. Als eine mächtige Welle sich aus dem Ozean erhob, begann er kraftvoll mit den Armen zu rudern, erwischte den Kamm, und sie rasten mit großer Geschwindigkeit dem Strand zu. Die Brandung warf sie ins seichte Wasser, der junge Surfer sprang ab, sie schurrte über den Meeresboden. Ihr Oberteil und ihre Unterhose füllten sich bleischwer mit Sand, und die rücklaufenden Wellen zerrten an ihr wie eine gierige Hundemeute, aber sie schaffte es, aufzustehen.
»Danke!«, schrie sie ihrem Retter zu und suchte sofort Nils’ hochgewachsene Gestalt, entdeckte ihn, als er eben durch die Glastür des Strandrestaurants verschwand. Ihr Herz sprang ungestüm gegen ihre Rippen, das Blut stieg ihr zu Kopfe.
Keuchend tauchte sie noch einmal unter, entfernte den Sand aus ihrer Unterwäsche und hetzte dann mit großen Sätzen über den heißen Strand hinauf zum Restaurant. Ihr knöchellanges Kleid schlang sich klatschnass um ihre Beine, das Wasser lief ihr aus den dunklen Haaren in die Augen, und die verbliebenen Sandkörner scheuerten an sehr unangenehmen Stellen, aber sie lief weiter. Im Laufen strich sie die Nässe aus den Haaren, wrang das Kleid aus, das aus hauchfeinem Leinen war und schon jetzt in der heißen Februarsonne trocknete. Bebend stieß sie die Glastür des Restaurants auf und ließ ihren Blick rasch durch den überschaubaren Raum laufen.
Er war nicht da. Es traf sie wie ein Schlag. Es konnte nicht sein! Jeder Tisch war besetzt, er war hier hineingegangen, aber er war nicht da. Sie drängte sich
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